Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Berlin den 30ten Juli 1828.

Verehrtester Herr Kapellmeister!

Auf Ihr werthes Schreiben vom 26ten d. M. an meinen Mann, meine Gastrollen betreffend, beeile ich mich zu versichern, daß ich genöthigt geworden bin, meine Abreise von hier später anzutreten als Anfangs bestimmt war. Den 15ten oder 16ten August darf ich erst abreisen und werde allerdings den 20ten Aug. in Cassel sein können, aber ob ich sodann schon aufzutreten im Stande bin, ist die Frage – nun! Wir werden ja sehen was möglich ist. Aber lieber guter Herr Kapellmeister sollte ich wohl nach schnell zurückgelegter Reise, sogleich in Zeit von 8 Tagen die 4 mir bezeichneten Rollen (worunter die meisten sehr anstrengend sind) geben können? ich glaube es nicht – und bin überzeugt Sie selbst werden daran zweifeln.
Dann vermisse ich so ungern bey Ihrer Wahl der Opern, von meinen liebsten Rollen, nehmlich im Opferfest, Figaros Hochzeit, Barbier von Sevilla, Freyschütz, Müllerin1, auch in Jessonda hätte ich gar zu gerne die Amazili wieder unter Ihrer Leitung gesungen2, fast3 nichts als ernste und tragische Rollen haben Sie mir ausgesucht, gar keine muntere. Das mir so wenig Zeit zur Erholung oder Vorbereitung vergönnt ist, so muß ich auf die Vorstellung der Desdemona4 gänzlich Verzicht leisten, und in der Weißen Dame habe ich eine andere Übersetzung, wo die Regulierung mit der Ihrigen vielleicht so geschwind nicht gehen würde, ich bitte also recht sehr, anstatt dieser beyden Opern, ein paar Andere, unter den oben genannten, zu wählen. Vor allem aber wünsche ich im Opferfest zu singen und so möglich darinn zuerst aufzutreten. Haben Sie doch die Gewogenheit, verehrtester Herr Kapellmeister, dies alles zu bewerkstelligen, indem ich nur auf diese Art für möglich halte, 4 Rollen in der vorgeschriebenen Zeit zu liefern. Aus alter Bekanntschaft und im Vertrauen auf Ihre wohlbekannte Güte und Gefälligkeit hoffe ich keine Fehlbitte zu thun.5
Nebst vielen Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin verbleibe ich Hochachtungsvoll

Ihre
ergebene Dienerin
Caroline Seidler.
Wranitzky.



Dieser Brief ist die Antwort an den derzeit verschollenen Brief Spohr an Carl August Seidler, 26.07.1828.

[1] Die im Deutschland dieser Zeit unter dem Titel Die schöne Müllerin aufgeführte L’amor contrastato von Giovanni Paisiello.

[2] Zu Seidlers Auftritt in Jessonda an den Königlischen Schauspielen in Berlin vgl. Spohr an Wilhelm Speyer, 20.02.1825 und 07.05.1825.

[3] „fast“ über der Zeile eingefügt.

[4] Rolle in Otello von Gioachino Rossini.

[5] Zu den Kasseler Rollen gehörte Rezia in Oberon von Carl Maria von Weber (vgl. Spohr an Wilhelm Speyer, 25.08.1828).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.05.2024).