Autograf: Biblioteka Jagiellońska Kraków (PL-Kj), Sign. Ms. Berol. Varnhagen-Sammlung 237, Spohr

Cassel den 30sten
October 26.

Wohlgeborner Herr,

Ich beeile mich Ihr geehrtes Schreiben zu beantworten, um das Beginnen Ihrer Arbeit nun keinen Augenblick zu verzögern.
Ihre Bedingungen nehme ich willig an. Die Amazonenkönigin1 habe ich bis jetzt nicht bekommen können, kann daher nicht wissen, ob der Stoff mir zusagen würde. Ein durchaus tragisches aber auch nur ernstes Opernbuch wünschte ich aber nicht, sondern am liebsten ein romantisches, worin ein reicher Wechsel von höchst leidenschaftlichen und heitern Scenen (aber nicht komischen, wofür ich kein Talent und keine Neigung habe,) wäre, mit einem Wort, das, Ihnen vorgeschlagene oder ein ähnliches Sujet aus der wirklichen Welt, mit Begebenheiten und Situation2, die sowohl den Gebildeten wie Ungebildeten anziehen können. Außer dem Komischen wünsche ich auch das Ironische gänzlich ausgeschlossen, welches sich, wie mir scheint, am allerwenigsten zur Komposition eignet. – Hinsichtlich des Textes, so habe ich gern viele Worte, um diese so wenig wie möglich wiederholen zu müssen. In Arien, Duetten überhaupt allenthalben, wo sich irgend ein Gefühl ausspricht und die Handlung nicht fortschreitet, läßt sich das Wiederholen des Textes aber nicht vermeiden und ist unumgänglich nöthig, um eine symmetrisch-musikalische Form für solche abgesonderte Musikstücke zu erhalten. Ich bin so frey, Ihnen das Textbuch meiner letzten Oper3 beyzulegen, weil Sie aus diesem einen Wunsche, hinsichtlich der Form der Musikstücke am besten ersehen werden. Das Scenarium dieses Buchs mit genauer Bestimmtung dessen, was in jeder Scene gethan werden soll, ist nämlich von mir selbst und Döring ist bey der Bearbeitung auch nicht davon abgewichen. Erinnern muß ich aber noch, daß bey einer Oper mit untermischten Dialogen, die Musikstücke, womöglich eine regelmäßige Form wie in der vorliegenden, haben müssen, obgleich ich auch wieder wünsche, daß die Form der verschiedenen Arien p.p. sich so wenig wie möglich ähnlich sey, damit ich auch auf mannigfaltige Formen in der Musik geführt werde. Sie werden ferner aus der beyliegenden Oper ersehen zu welcher Scene ich das meiste Talent habe, wenn ich hinzufüge, das die 6te Scene bis zu Ende des 1sten Akts4, dann im 2ten Akt das Erscheinen der Blumengestalten5 und im 3ten die große Arie des Berggeistes mit Chor6 die Glanzpunkte in Hinsicht der Komposition sind und hier und in Leipzig vom Publiko als solche anerkannt wurden.7 Manche andere Momente, auf den ich und meine musikalischen Freunde besonderen Werth legen, sind vom Publiko weniger goutirt und ich bezeichne sie daher hier nicht, da es bey der neuen Oper aufs gefallen angelegt werden soll, so viel sich’s nur mit dem guten Geschmack verträgt. Ich werde auch in der Hinsicht Ihren Rath beherzigen; doch glaube ich ihn auch schon, in der vorliegenden Oper (die ich überhaupt für meine Beste halte) und in Jessonda befolgt zu haben, besonders was fließende, sangbare8Melodien und pikante Instrumentirung anbetrifft. Auf eigentliche Schlagaffekte bin ich aber nie ausgegangen und habe ich nie den großen Haufen durch sogenannte populaire Melodien (vulgo Gassenhauser) anzugehen versucht, getrau mir auch zur Erfindung solcher Melodien kein Talent zu.
In der Anordnung des Berggeistes ist darin gefehlt, daß zu vielerley Chöre darin sind, und diese zu häufig beschäftigt. Die Theaterchöre sind fast immer schlecht und man soll sie, daher so sparsam wie möglich gebrauchen und hauptsächlich9 nur dann, wenn es darauf ankommt, viel Lerm zu machen: bey den Enden der Finale’s u.s.w. – Ferner ist in der beyliegenden Oper die Charakterisirung der Blumengestalten, so wie ihr Vergehen im Zusammentreffen mit den Feuergeistern für den großen Haufen nicht klar und verständlich genug10 und diese Scenen, von denen ich wegen ihrer Neuheit die meiste Wirkung erwartet hatte, sind wohl hier wie in Leipzig fasst am spurlosesten vorüber gegangen. Man muß unserm deutschen Publikum alles hübsch deutlich machen. – Sie werden ferner bemerken, daß der Text des Berggeist’s ohne Reime ist. Ich machte Döring zur Pflicht sie zu vermeiden, weil ich der Meinung bin, daß der Reim beym Gesange völlig unnütz ist (höchstens nehme ich ganz kurze Schlagreime in komischen Sachen aus,) und den Dichter doch stets (natürlich mehr oder weniger) genirt und gar zu leicht zu ungehörigen Ausdrücken oder verschrobener Construktion oder dergl verführt. Daß ich darin sehr gern Ihren besseren Einsicht folge und wenn Sie nicht meiner Meinung sind, eben so gern gereimten Text komponire, versteht sich von selbst. Schlüßlich bemerke ich noch, daß wir Komponisten es gern haben wenn die Komma so viel wie möglich immer zu Ende der Zeile stehen11, die Punkte eben stets daselbst und immer mit einer langen Sylbe beschlossen12 um beruhigende Cadenz machen zu können.
Da Sie vielleicht in Carlsruhe einen Clavierauszug des Berggeist’s geliehen bekommen können, um13 nachzusehen wie ich den Text behandelt und besonders wie und wo ich Textwiederholungen gemacht habe, so bezeichne ich wenigstens im ersten Akt, dies durch Anmerkungen und mit Röthel. Lieb wäre es mir aber, Sie könnten den Clavierauszug sehen, um sich zu überzeugen, daß ich nur dramatische Musik zu schreiben mich bemühe und mir besonders14 die Musik. Declamation und diese wieder besonders im Recitativ zum Studium gemacht habe.
Ich sehe nun einer recht baldigen Mittheilung eines Plan’s und Scenariums entgegen. – Wir haben hier 3 vorzügliche Sängerinnen 2 ebenso gute Tenore und 3 Bässe; ich möchte aber, daß das Personal (wegen andrer Bühnen) nicht zu zahlreich werde.
Sollte Ihnen in diesem Schreiben vieles chaotisch und unzusammenhängend vorkommen, so wird mich das nicht wundern; entschuldigen werden Sie es aber gütigst, 1.) weill ich überhaupt nicht zu schreiben verstehe und 2tens weil es mir jetzt an ruhiger Muße fehlt, meine Gedanken zu sammeln. – Mit inniger Hochachtung der Ihrige
L. Spohr .

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Robert, Ludwig
Erwähnte Personen: Döring, Georg
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Berggeist
Spohr, Louis : Jessonda
Erwähnte Orte: Kassel
Leipzig
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Kassel>
Stadttheater <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1826103019

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Robert an Spohr, 23. oder 24.10.1826. Robert beantwortete diesen Brief am 29. November 1826.

[1] Penthesilea von Heinrich Kleist (vgl. Vorbrief).

[2] „und Situationen” über der Zeile eingefügt.

[3] Der Berggeist. Romantische Oper in drey Aufzügen von Georg Döring. Musik von L. Spohr, o.O. [1825].

[4] Vgl. ebd., S. 17-25.

[5] Vgl. ebd., S. 44.

[6] Vgl. ebd., S. 60-63.

[7] In seinem Brief an Wilhelm Speyer, 18.09.1825 schreibt Spohr: „Am meisten wirkte auf die Zuhörer das Finale des ersten Akts, die Sopranarie des dritten und die Arie des Berggeists wo er die Blumen zählt.“ Statt des Erscheinens der Blumengestalten nennt er hier also eine Arie (Berggeist, S. 47f.).

[8] Hier Vorsilbe „ge-” gestrichen.

[9] „hauptsächlich” über der Zeile eingefügt.

[10] Vgl. ebd., S. 44f.

[11] „stehen” über der Zeile eingefügt.

[12] „beschlossen” über der Zeile eingefügt.

[13] Hier ein unleserlich gestrichenes Wort (drei Buchstaben mit „i” in der Mitte?).

[14] Hier gestrichen: „ein Studium”.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.06.2020).