Autograf: dem Druck zufolge um 1908 im Besitz von A. Weber in Darmstadt
Druck: Wilhelm Altmann, „Aus Gottfried Weber's brieflichem Nachlass”, in: Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft 10 (1908/09), S. 477-504, hier S. 495f. (teilweise)

Cassel, 6. Juli 1826.

Ew. Wohlgeboren!

geehrte Zuschrift nebst der Beilage1 fand ich vorliegen, als ich ehegestern nach einer Abwesenheit von 5 Wochen hieher zurückkehrte. Ich beeile mich Ihnen für Ihre gütige Zusendung der höchst interessanten Schrift meinen ergebensten Dank zu sagen. Ich habe sie mit großem Anteil gelesen und verdanke ihr manche Aufklärung in dieser Angelegenheit. Besonders merkwürdig war es mir, zu sehen, daß Mozart in seiner Fuge, deren Hauptthema ich längst aus dem ,Messias' entlehnt kannte, auch das Gegenthema von Händel erborgt hat, und ich bin Ihrer Meinung, daß Mozart ohnmöglich dies Tonstück zur Bekanntmachung bestimmt haben konnte, es sei denn, daß er ganz vergessen hatte, woher er in früherer Zeit die Themen genommen habe. Und doch ist diese Fuge auch wieder meisterhaft gearbeitet, daß man ohnmöglich glauben kann, es sei eine ganz frühe Jugendarbeit. Ich kann mich überhaupt noch nicht überzeugen, daß Mozart nicht einiges, was entschieden von seiner Arbeit ist, im letzten Lebensjahre nach der Bestellung des Unbekannten geschrieben haben sollte, z.B. gleich den Anfang, das Recordare, weil dies meinem Gefühl nach nicht bloß das herrlichste ist, was von Kirchenmusik überhaupt existiert, sondern auch alles Mozart'sche der Gattung aus früherer Zeit bei weitem übertrifft. Die Ähnlichkeit, die der Anfang des ,Requiem' mit der Trauerkantate von Händel hat, ist übrigens nicht groß und kann zufällig sein, aber sie ist durch eine unbewußte Haltung, die Mozart von der Händel'schen Musik hatte, entstanden. Aber auch, wenn sie absichtlich wäre, ist sie leicht zu entschuldigen, da die Mozart'sche Nachbildung so unendlich viel herrlicher ist als das Händel'sche Vorbild.
Ich bin nun begierig zu sehen, ob Herrn Andrés Bekanntschaft ein helleres Licht über die Entstehung des ,Requiem' verbreiten werde, zweifle aber sehr, daß man je mit Gewißheit wird ermitteln können, aus welcher Periode die verschiedenen echt Mozart'schen Sätze sind, noch weniger, was Süßmaier bei den seinigen von Mozart'schen Ideen benutzt hat.
Verzeihen sie gütigst, daß ich hier unberufen einige Ideen niedergeschrieben habe, die sich beim Lesen Ihrer interessanten Schrift aufdrängten, und entschuldigen Sie es mit dem Interesse, was auch mir diese Angelegenheit eingeflößt hat [...]

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Weber, Gottfried
Erwähnte Personen: André, Johann Anton
Erwähnte Kompositionen: Händel, Georg Friedrich : Funeral Anthem
Händel, Georg Friedrich : Messiah
Mozart, Wolfgang Amadeus : Requiem
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1826070613

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Weber an Spohr. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Weber, 22.10.1826.

[1] Gottfried Weber, „Über die Echtheit des Mozartschen Requiem”, in: Caecilia 3 (1825), S. 205-229.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.05.2016).