Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Dem
Dem Herrn Herrn
Kapellmeister Spohr
Hochwohlgebohrn
Hieselbst


Hochwohlgebohrner
Hochzuverehrender Herr Kapellmeister

Ich kann es einmal nicht länger ertragen und muß Euer Hochwohlgebohrn mein anliegen eröffnen.
All mein bestreben, all mein zureden, an meine Tochter sich hier noch zu gedulden, Hilft nichts, sie kränkt sich so sehr daß ich fürchten mus, sie wird am ende unterliegen und krank werden, und zwar weil sie sich so sehr ohngeachtet ihres Fleises, und schönen Stimme zurück gesetzt siehet. Sie will absolument ihre schönsten Jahre in denen sie sich befindet, anwenden zum weiter kommen, und nachdem man ihr dahier so wenige bedeutende parthien anvertraut so ist dieses hier nicht möglich.
Seit einem ganzen1 Jahre bekam sie an einen2 rollen nur die Kunigunde in Faust, die Gräfin in Figaros Hochzeit lernte sie aus eigenem antrieb, aber wird nicht gegeben. Nun hat sie aus eigenem antrieb die Dem Desdemona3 ganz einstudirt, in der Hoffnung daß ihr selbe zugetheilt würde nun aber erfuhr sie, daß Hochdieselben geäußert haben, es wäre eine spiel parthie, und würde sie nicht erhalten, die bittersten Thränen weinte sie hierüber, und sagte habe ich eine Kunigunde eine Amenaide4 eine Elvira5 gemacht, so werde ich auch die Desdemona zur Zufridenheit machen, man solle es nur darauf ankommen lassen.
Auch habe ich meiner tochter gesagt, daß Euer Wohlgebohrn mir selbst gesagt haben, als ich die Ehre hatte bey Ihnen zu seyn, daß die hiesige Direction nie vor hatte eine erste sängerin aus meiner Tochter6 zu machen
und sie hatte nie etwas anderes Vor als erste sängerin zu werden, und sie wird es auch, wo nicht Hier so doch anderswo oder sie würde eheder nie mehr eine Bühne betreten.
Euer Hochwohlgebohrn werden leicht fassen, wie eben so wohl mich, als meiner tochter dieses alles kränket, und eine andere sängerin die weder spiel noch stimme hatt ihr vorgezogen wurde und wird.7
Meine innigste bitte ergehet daher an Euer Hochwohlgebohren die weit und breit so wie der Kunst wegen als auch der edelsten Denkunsart8 berühmt sind, entweder meiner tochter die unbedeutenden rollen so par exemple die erste Dame in der zauberflöte, die Emilie in ottelo, e c e c9 abzunehmen, ihr bessere gütigst zu geben, oder dazu gefälligst beizutragen, daß man ohne schwierigkeiten meine tochter nach 4 monatlicher kündigung entlassen möge.
Nachdem die Madame Devrient komt, und die Demoisell Schopf dahier ist, so ist sie ohne dem dahier ganz überflüsig auch will sie durchaus zu untergeordneten und geringen parthien sich nie mehr verstehen.
Euer Hochwohlgebohrn denken gewiß zu erhaben als ein so junges Frauenzimmer von ihrem glücke abzuhalten den wo sie jetz hinkomt wird sie als erste sängerin engagirt10 und stehet sich weit besser, und kann täglich im Spiel und in der Kunst weiter schreiten.
Es ist wirklich seltsam und schade daß man ein so talentvolles frauenzimmer die mit einer so schönen stimme von der Natur begabt ist so gleichgültig dahin behandelt.
Da mich daß schreiben so hart ankomt, indem meine Augen so schwach sind so bitte ich Euer Hochwohlgebohrn doch gefälligst dieses eine Schreiben dem Herrn General Director zu communiciren.
Mit größter Hochachtung habe ich die Ehre zu seyn

Euer Hochwohlgebohrn
gehorsamste Dienerin
Fanny Nerl

Cassel a 27 9bre 1824



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Nerl an Spohr, 05.07.1823.

[1] „ganzen“ über der Zeile eingefügt.

[2] Sic! Im Sinne von „ersten“?

[3] Rolle in Otello von Gioachino Rossini.

[4] Zur Verkörperung dieser Rolle in Tancredi von Gioachino Rossini vgl. „Cassel, im März“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 26 (1824), Sp. 225ff., hier S. 226.

[5] Zur Verkörperung dieser Rolle in Das Opferfest von Peter von Winter vgl. ebd.

[6] „Tochter“ über der Zeile eingefügt.

[7] Louise Schweitzer, später verh. Roller (vgl. Spohr an Xaver Keller, 29.05.1824).

[8] Sic!

[9] Abk. f. „et cetera“.

[10] „engagirt“ über gestrichenem „angestellt“ eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.05.2024).