Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,226
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 81-84

Kapellmeister Louis Spohr
Wohlgeb
Cassel.
in Hessen.


Berlin am 19 November 1824.

Theurer Freund! Seit 10 Tagen lebe ich hier und noch bin ich zu keiner klaren Anschauung der Dinge gelangt. Die ungewohnten Eindrücke, das mannigfaltige Interessante, Neue was mir begegnet, stören das Gleichgewicht meiner Empfindungen und betäuben meine Sinne. Erwarten Sie daher noch keine geordnete Darstellung, sondern vor der Hand nur flüchtige Bemerkungen über das, was mir am auffallendsten. Im allgemeinen habe ich Berlin sehr verändert gefunden. Vor 15 Jahren war es ein großes Dorf und die damaligen politischen Verhältnisse versetzten alles in Trauer und Schmach. Jetzo, gerade das Gegentheil. – Glanz und Pracht im Aeußern und ein großes Kapital geistiger Kräfte im Umlauf, wie man dies selten vereint findet. Ich kann nicht läugnen, daß dieses Alles sehr wohltätig auf mich einwirkte, um so mehr, da ich von jeher für den deutschen Norden und besonders für Berlin eine große Vorliebe hegte. – Für Ihre Empfehlungsbriefe1 statte ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank ab. Von Spontini bin ich sehr ausgezeichnet artig empfangen worden. Nachdem er mich beinahe eine Stunde über seine Opern Olympia u Nurmahal unterhalten hatte, suchte ich das Thema auf Jessonda zu bringen, um zu erfahren, was er vorhabe. Er erklärte mir nun, daß er gesonnen sei, Jessonda zum nächsten Karneval aufzuführen, wobei er sich freue, die Oper von dem Komponisten dirigirt zu sehen. Ich suchte nun zu erfahren, wie er die Besetzung der Rollen vornehmen werde, und erfuhr bei dieser Gelegenheit zu meinem Schrecken, daß er die Amazilli der Eunike bestimme. Dieses fuhr mir durch alle Glieder, indem der Fall der Oper hierdurch bedingt erscheint. Ich hielt jedoch zurück, weil ich es umpassend fand, beim ersten Besuch Remonstrationen2 zu machen. Bei einer anderen Gelegenheit brachte er die Jessonda wieder in Anregung. Hier machte ich ihm nun die Bemerkung, daß wie ich glaubte, die Eunike der Rolle nicht gewachsen sei. Zu meinem großen Erstaunen erklärte er mir sehr artig, wie ihm diese Bemerkung angenehm wäre, und forderte mich zugleich auf, Sie zu bitten, ihm über die Besetzung Vorschläge zu machen, welche er womöglich berücksichtigen werde. Die Schulz, welche ich zur Jessonda vorschlug, liegt seit 14 Tagen in den Wochen und Spontini meint, daß sie sich wohl nicht bis zum Karneval erholen möchte. Nichtdestoweniger müßen Sie darauf bestehen, der Schulz die Rolle zuzuwenden, denn es ist ausgemacht, daß sie in 3 bis 4 Wochen wieder singt. – Sollte es aber mit der Schulz nicht durchzusetzen sein, so müßte freilich die Seidler an die Jessonda, alsdann schlagen Sie aber die Reinwald3 zur Amazili vor. (Nadori) Bader (Tristan) Blume (Dandau) Sieber oder Devrient. – In einigen Tagen speise ich bei Spontini und werde suchen die Sache wieder anzuknüpfen. –
Den Ankunfts-Abend hörte ich Moscheles in seinem ersten Conzert, welches sehr brillant ausfiel.4 Er hat unterdessen ein 2tes gegeben. Auch Arnold, ein Jugendfreund von mir, gab Conzert.5 In diesem hörte ich eine Sinfonie von dem kleinen Felix Mendelssohn, die mich zur Bewunderung hinriß. Dieser Junge ist eine Erscheinung, wie sie die Natur nur selten hervorbringt. Diese seine 13te Sinfonie ist so vortrefflich, daß sie den ersten Meistern zugeschrieben werden dürfte. Phantasie, Originalität, Symmetrie der Formen, ausgezeichnete Melodien, gepaart mit der strengsten Schreibart, reinsten Satz, kontrapunktischer Kunst. – So hörte ich bei ihm zu Hause ein Doppel-Konzert für 2 Piano-Forte, Quartetten, Sonaten pp lauter Meisterstücke. Und wie herrlich, wie ausdrucksvoll spielt dieser Junge! Nächst diesem überraschte mich ein 8stimmiges Miserere von Fasch in der Zelterschen Singakademie. Die Kraft der Chöre, das richtige Verhältnis der Stimmen, hörte ich so noch nie. – Ueber Nurmahal und Cortez nach der neuen Bearbeitung schweige ich, indem Sie alles dieses zu oft hören werden. Die Ausstattung dieser Opern gränzt ans Unglaubliche. Desto magerer die Mozartschen, die es freilich auch weniger bedürfen. – Jessonda wird in diesen Tagen in einer Privatgesellschaft aufgeführt. – Gestern (am 20) war ich bei Dr. Logiers Uebungen, welche Ihnen bekannt sind. Er grüßt Sie. – Heute giebt Möser Conzert.
Das Mösersche Concert hat mich, mit Ausnahme der Cmoll Symphonie von Beethoven nicht befriedigt.6 – Sein Spiel ist veraltet, seine Compositionen Null. Das Orchester hätte ich mir besser gedacht. Nur die Spontinischen Opern werden mit großer Sorgfalt executirt. – Ich denke mir, vor der Jour(?) genug geschmirt zu geben. Vielleicht erhalten Sie noch einen Brief von mir. – Nach Dresden werde ich schwerlich gehen, denn es ziehet mich nach Hause. – Leben Sie wohl theurer Fr., grüßen Sie die Ihrigen und schreiben recht bald (jedoch nach Ffurt) Ihrem treu ergebenen

Wm Speyer.

Den herzlichsten Gruß dem großen Spohr von seinem aufrichtigen Verehrer Moscheles, der sich auf ein früheres Schreiben aus Leipzig bezieht. Mein 3tes Konzert gebe ich hier am 6t Dec., und denke einige Tage darauf nach Hamburg abzureisen. Mit wahrem Verlangen sehe ich einmal einer Zuschrift von Ihnen entgegen, doch das Werden eines neuen Rübezahls7 ist mir bis jetzt die tröstende Ursache daß ich so lange auf dieses Vergnügen harren muß.

Ihr ganz ergebener
I. Moscheles.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Speyer, 05.11.1824. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Speyer an Spohr, 07.12.1824.

[1] Diese Briefe sind derzeit verschollen.

[2] Einwendungen.

[3] Henriette Reinwald, später verh. Valentini.

[4] Vgl. „Berlin. Uebersicht des November”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 26 (1824), Sp. 858-863, hier Sp. 860.

[5] Vgl. Ebd., Sp. 860f.; [Adolph Bernhard] Marx, „Berlin, den 8. November 1824. Herrn und Madame Arnolds Konzert”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 26 (1824), S. 405ff.; Harald Herresthal, Carl Arnold (1794-1873). Ein europäischer Musiker des 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentarbiographie mit thematischem Werkverzeichnis (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte 23), Wilhelmshaven 1993, S. 58ff.

[6] Vgl. „Berlin. Uebersicht des November”, Sp. 861.

[7] Der Berggeist.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (22.02.2016).

Berlin, 19. November 1824.

Teurer Freund! Seit zehn Tagen lebe ich hier und noch bin ich zu keiner klaren Anschauung der Dinge gelangt. Die ungewohnten Eindrücke, das mannigfaltige Interessante, Neue, was mir begegnet, stören das Gleichgewicht meiner Empfindungen und betäuben meine Sinne. Erwarten Sie daher noch keine geordnete Darstellung, sondern vorderhand nur flüchtige Bemerkungen über das, was mir am auffallendsten. Im allgemeinen habe ich Berlin sehr verändert gefunden. Vor fünfzehn Jahren war es ein großes Dorf und die damaligen politischen Verhältnisse versetzten alles in Trauer und Schmach. Jetzt gerade das gegenteil. Glanz und Pracht im Äußeren und ein großes Kapital geistiger Kräfte im Umlauf, wie man dies selten vereint findet. Ich kann nicht leugnen, daß dieses alles sehr wohltätig auf mich einwirkt, um so mehr da ich von jeher für den deutschen Norden und besonders für Berlin eine große Vorliebe hegte. Für Ihre Empfehlungsbriefe statte ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank ab. Von Spontini bin ich sehr ausgezeichnet artig empfangen worden. Nachdem er mich beinahe eine Stunde über seine Opern ,Olympia’ und ,Nurmahal’ unterhalten hatte, suchte ich das Thema auf ,Jessonda’ zu bringen, um zu erfahren, was er vorhabe. Er erklärte mir nun, daß er gesonnen sei, ,Jessonda’ zum nächsten Karneval aufzuführen, wobei er sich freue, die Oper von dem Komponisten dirigiert zu sehen. Ich suchte nun zu erfahren, wie er die Besetzung der Rollen vornehmen würde, und erfuhr bei dieser Gelegenheit zu meinem Schrecken, daß er die Amazilli der Eunike bestimme. Dieses fuhr mir durch alle Glieder, indem der Fall der Oper hierdurch bedingt erschien. Ich hielt jedoch zurück, weil ich es umpassend fand, beim ersten Besuch Einwendungen zu machen. Bei einer anderen Gelegenheit brachte er die ,Jessonda’ wieder in Anregung. Hier machte ich ihm nun die Bemerkung, daß wie ich glaubte, die Eunike der Rolle nicht gewachsen sei. Zu meinem großen Erstaunen erklärte er mir sehr artig, wie ihm diese Bemerkung angenehm wäre, und forderte mich zugleich auf, Sie zu bitten, ihm über die Besetzung Vorschläge zu machen, welche er womöglich berücksichtigen werde. – In einigen Tagen speise ich bei Spontini und werde suchen die Sache wieder anzuknüpfen. –
Am Ankunftsabend hörte ich Moscheles in seinem ersten Konzert, welches sehr brillant ausfiel. Auch Karl Arnold, ein Jugendfreund von mir, gab Konzert. In diesem hörte ich eine Sinfonie von dem kleinen Felix Mendelssohn, die mich zur Bewunderung hinriß. Dieser Junge ist eine Erscheinung, wie sie die Natur nur selten hervorbringt. Diese seine dreizehnte Sinfonie ist so vortrefflich, daß sie den ersten Meistern zugeschrieben werden dürfte. Phantasie, Originalität, Symmetrie der Formen, ausgezeichnete Melodien, gepaart mit der strengsten Schreibart, dem reinsten Satz und kontrapunktischer Kunst. So hörte ich bei ihm zu Hause ein Doppelkonzert für zwei Klaviere, Quartette, Sonaten, usw. usw., lauter Meisterstücke. Und wie herrlich, wie ausdrucksvoll spielt dieser Junge! –
Nächst diesem überraschte mich ein achtstimmiges Miserere von Fasch in der Zelterschen Singakademie. Die Kraft der Chöre, das richtige Verhältnis der Stimmen, hörte ich so noch nie. –
Über ,Nurmahal’ und ,Fernan Cortez’ nach der neuen Bearbeitung schweige ich, indem Sie alles dieses zu oft hören werden. Die Ausstattung dieser Opern grenzt ans Unglaubliche. Desto magerer die Mozartschen, die es freilich auch weniger bedürfen.
,Jessonda’ wir in diesen Tagen in einer Privatgesellschaft aufgeführt. – Gestern war ich bei Dr. Logiers Übungen, welche Ihnen bekannt sind. Er grüßt Sie. – Heute gab Möser Konzert. Es hat mich mit Ausnahme der C-Moll-Sinfonie von Beethoven nicht befriedigt. Sein Spiel ist veraltet, seine Kompositionen Null. Das Orchester hätte ich mir besser gedacht. Nur die Spontinischen Opern werden mit großer Sorgfalt ausgeführt ... Leben Sie wohl, teurer Freund, grüßen Sie die Ihrigen und schreiben recht bald

Ihrem treu ergebenen
Wm. Speyer.

Den herzlichsten Gruß dem großen Spohr von seinem aufrichtigen Verehrer Moscheles, der sich auf ein früheres Schreiben aus Leipzig bezieht. Mein drittes Konzert gebe ich hier am 6. Dezember und denke einige tage darauf nach Hamburg abzureisen. Mit wahrem Verlangen sehe ich nun einmal einer Zuschrift von Ihnen entgegen, doch das Werden eines neuen ,Rübezahls’ ist mir bis jetzt die tröstende Ursache, daß ich so lange auf dieses Vergnügen harren muß. Ihr ganz ergebener

J. Moscheles.