Friedrich Wilhelm Kiel an Louis Spohr in Kassel

Wohlgeborner Herr Capellmeister
Insonders Hochzuehrender Herr!

Ew. Wohlgeboren ist es bekannt, daß meine Tochter den ihr zustehenden Urlaub, welchen ich zu Gastrollen an Ihrer Bühne bestimmt hatte, im verflossenen Monat April ausgesetzt hat, weil Sie in Ihrem lezten Schreiben meldeten, daß die Gastrollen nicht vor dem Monat September Stattfinden könnten. Ich nehme mir die Freiheit Ihnen zu melden daß der Urlaub meiner Tochter bis zum Monat September dieses Jahrs prorogirt ist, und meine Tochter als dann dort eintreffen und die bereits verabredeten Gastrollen geben kann.
Meine Gesinnungen über ein Engagement meiner Tochter bei der Bühne, sind noch die nemlichen die ich in meinem früheren Briefe geäußert.
Es gehört zu meiner Tochter Lieblingswunsche in Ihrer Oper Jessonda mitaufzutreten. De jedoch diese Oper hier noch nicht gegeben ist, so wünscht meine Tochter die Parthie der Jessonda einzustudiren, und deshalb ersuche ich Sie, die Parthie mir gefälligst übersenden zu wollen.
Ew. Wohlgeb. geneigten Antwort sehe ich hierüber entgegen, und bemerke nur noch, daß Herr Gerstäcker, welcher bei seiner Durchreise meine Tochter gesehen hat, Ihnen über deren Persönlichkeit und Fähigkeit ein Zeugniß ablegen kann.
Mit ausgezeichnetster Hochachtung beharre ich

Ew. Wohlgeboren
gehorsamster
Fr. Wilh. Kiel

Braunschweig
d 2^ten Juni 1824