Autograf: Österreichische Nationalbibliothek Wien (A-Wn), Sign. Autogr. 7/100-3

Sr. Wohlgeb.
Dem Herrn Keller
Großzerzoglicher badischer Rath
und Mitglied des Hoftheater-
Comitées zu
Carlsruhe.
 
franco.
 
 
Cassel den 29sten May
24.
 
Wohlgeborener,
Geehrter Herr und Freund,
 
Was Ihnen Madame Nerl1 von ihrer Tochter2 (denn diese meint sie,) geschrieben hat, ist zum Theil wahr; doch hat sie die Hauptsache verschwiegen, nämlich daß ihre Tochter hier kontraktmäßig auf 3 Jahre engagirt ist und während dieser 3 Jahre den Contract nicht lösen kann. Wir engagirten sie vor 9 Monathen, als eine Anfängerin, die noch nie ein Theater betreten hatte, machten uns anheischig ihr die nöthigen Lehrer zu halten, gaben ihr für das erste Jahr sogleich 600 Rth Gehalt und versprachen von Jahr zu Jahr Zulage in dem Maße wie sie dem Institut nützlicher werden würde. Nun hat sie im Gesang allerdings Fortschritte gemacht und genügt in den Rollen, die die Mutter angeführt hat, in diesen so ziemlich, leider ist sie aber im Spiel so unhaltbar, daß auch für die Folge davon wenig zu hoffen ist. Doch ist die Direktion keineswegs geneigt, sie vor Ablauf der 3 Jahre ihres Contracts zu entlassen, dieß weiß auch Madame Nerl recht gut und es ist nun ihre gänzliche Unkenntniß der Theaterverhältnisse und der Heiligkeit eines Contracts zuzuschreiben, daß sie Schritte thut wie der, von dem mich Ihr lieber Brief in Kenntniß sezt. Ihre Unzufriedenheit mit ihrer, für die Ausbildung ihrer Tochter so sehr glücklichen Lage, rührt daher, daß wir kürzlich eine junge Sängerin3 mit einem, das doppelte übersteigenden Gehalts engagirt haben, die in ihren Augen nicht mehr bietet als ihre Tochter. Auf diese Meynung gestüzt, machte sie eine Forderung an die Direktion, die eben so thörigt(?) wie ungeschickt war. - Doch genug; das obige wird hier reichen, Sie von der Lage der Sache in Kenntniß zu setzen.
Meine Oper Jessonda (die nun bald auf allen deutschen Theatern seyn wird; (in Dresden, Berlin Hamburg und München wird sie binnen kurzem auch gegeben werden,) läßt sich auf Theatern, wo das Opferfest, Ferdinand Cortez und ähnliche Opern im Gange sind, ohne allen Aufwand von Decoration und Garderobe in Scene setzen; das einzige ungewöhnliche sind Bajaderen-Tänze und Krieger-Evolutionen4; doch kommen ja auch diese, wenn ich mich nicht irre, auch im Cortez vor. D[as] Honorar für Partitur und Buch (welch[es] ebenfalls mein, vom Dichter erkauftes Eig[enthum] ist) beträgt 20 Friedrichsd'or oder deren Werth. Meine Familie, die Ihnen für Ihr gütiges Andenken sogleich danken läßt, ist wohl und vergnügt. Meine älteste Tochter5 (vor einigen Tagen 17 Jahre alt,) hat ein schönes Gesangstalent und cultivirt es mit Eifer obgleich sie nie Theatersängerin werden will. Meine Frau befindet sich, seit wir eine ländliche Wohnung (100 Schritte vom Thor, seit vorigem Jahr von mir erkauft) bewohnen, viel gesünder wie früher, was das Glück meiner hiesigen, höchst zufriedenen Lage sehr erhöht. Ich bitte schlüßlich meine dortigen Freunde Witzenmann, Fesca, Danzi u.s.w. herzlich zu grüßen und verbleibe mit vorzüglichster Hochachtung und Freundschaft der Ihrige L. Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Keller an Spohr, 24.05.1824. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Keller an Spohr, 28.04.1833.
 
[1] Fanny Nerl.
 
[2] Rosa Nerl.
 
[3] Louise Schweitzer, später verheiratete Roller.
 
[4] Evolution = Heeresbewegung (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 181).
 
[5] Emilie, später verheiratete Zahn.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.05.2017).