Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeschätzter Freund!

Es vergeht kein Tag wo ich mich nicht mit dankbarem Herzen an das unzählige Gute so Sie meinem Sohn Leon erwiesen haben erinnere; was ich nie vergessen werde; seyn Sie daher versichert, wenn ich auch nicht die Gelegenheit habe es äußern zu können. Es fält so schwer einen Menschen zu finden, dem man so ganz vertrauen kann. Meine Lage ist von der Art daß es mir ein wahrer Freund seyn muß dem ich meinen Kummer eröffnen darf.
Da Sie sonst so vielen Antheil an meinem Schiksal nahmen so schmeichle ich mir daß Sie sich auch zuweilen meiner freundschaftlich erinnern; und bey Uiberlesung dieses Briefes nicht unwillig seyn werden, wenn der Inhalt desselben Ihnen vielleicht eine angenehme Stunde stöhrt1.
Wir sind nun seit vier Jahren in Wien wo es mir sehr unglücklich mit meinem ältern Sohn Leon ergieng. Als wir hier ankamen ließ derselbe sich hören und erwarb sich einen allgemeinen Beyfall. Man hieß Ihn ohne weiters Concerts geben, und spiegelte Ihm für die Zukunft ein großes Glück war. Er ist beym Joseph-städter Theater mit fünfzig Gulden V.V. angestellt und giebt außerdem noch Lectionen. Ich muß gestehen daß dieß meinen Erwartungen nicht ganz entspricht; und ich kann2 nichts mehr dazu beytragen sein Sort3 brillianter herzustellen, da Er seitdem wir in Wien sind, keinen guten Rath mehr von mir annimmt. Es fanden sich hier Menschen die, die Kunst verstehen die sich um Ihn annahmen; – ich würde dieß gewieß mit Dank erkannt haben, wenn dieselben Ihn nicht zugleich mit Ihren bösen Rathschlägen gänzlich von mir losgerissen hätten; so zwar daß Er seit einem Jahr gar nicht mehr bey mir wohnt. Er kömmt sehr selten zu mir, und ich muß daß was Er mir und meinen jüngeren Sohne zum Leben giebt, täglich von Ihm wie ein Almosen hollen4; wo Er sich meist gegen mich ohne aller Achtung beträgt. Ich habe so genau wie möglich, um für die Lehre meines jüngeren Sohnes so viel wie möglich thun zu können: Welcher viele Fähigkeiten, besonders aber für die Musick erstaunt viel Talent hat. Meine Sorge vermehrt sich täglich, da die fernere Ausbildung dieses Kind, es für die Zukunft mehr Aufwand erfordern wird, und ich nicht einmal im Stande bin, weder für ihn noch mich, die nothwendigste Kleidung und Wäsche berbeyzuschaffen. Durch die ganze Zeit unseres hiesigen Aufenthalts haben noch Sachen vom frühern Jahren ausgeholfen. Aber itzt ist die Noth auf das höchste gestiegen. – Wenn mein Sohn mit mir vereint lebte, ließ sich doch etwas in der Haushaltung ansparen: dann könnte Er mir auch bey der Erziehung meines jüngeren behülflich seyn; und wenigstens würde doch der Musik-Meister entbehrlich seyn. Was ich schon gelitten habe, davon können Sie sich keine Vorstellung machen. Der Harm und mein öfteres weinen haben meine Gesundheit und meine Augen so geschwächt, daß ich nicht im Stande bin etwas für meinen Lebensunterhalt zu erwerben. Ich suche meine Noth so viel wie möglich den Augen der Welt zu entziehen, doch habe ich ein paarmal Hilfe gesucht, und immer zur Antowrt erhalten, man hätte genug mit dürftigen Landeskindern zu thun und könnte sich nicht mit fremden befaßen. Fremd, ohne Vaterland würde ich zwar bey meinen Kindern die Heimath und den Ersatz für alles ausgestandene Mißgeschick finden;5 seitdem sich mein Sohn von mir losgerissen hat fühle ich mich doppelt verlassen. Wo soll ich mich hinwenden? Sie kenne ich als einen Menschenfreund, mit Ihrem edle guten Herzen werden es mir nicht verargen, wenn ich meine Zuflucht, mit meinen geängstigten Herzen des meist Muttersorgen großen zu Ihnen nehmen: da Sie selbst ein guter Vater sind. Ich weiß daß Sie eine ausgebreitete Bekanntschaft haben, worunter sich ohne Zweifel mehrer Menschen von gromüthigen und wohlthätigen Herzen befinden. Als ein so allgemein geschätzer und berühmter Mann wäre es Ihnen vielleicht möglich, bey Vorweisung dieses Briefes eine Collecte für mich zu sammeln. Ich beschwöre und bitte Sie bey allen was Ihnen nur lieb und theuer ist es zu thun. –
Wenn ich nur einmal eine Hilfe erlangen könnte; das ich mich in den allernothwendigsten ein wenig einrichten könnte und meine Gesundheit besser pflegen könnte: dann ließe sich doch vielleicht etwas unternehmen, daß ich etwas für meinen Lebensunterhalt erwerben könnte; und ich würde Sie gewiß nie mehr mit Bitten dieser Art belästigen. Es fällt mir ohnehin schwer, aber die äußerste Noth zwingt mich dazu. Ich bitte Sie dieß wohl zu beherzigen, und auch so bald es Ihnen möglich vorläufig mit einer Antwort zu beehren. Ihre Frau Gemahlin mache ich mein Compliment und bitte mich Ihr bestens zu empfehlen, Ihre lieben Töchter werden wohl schon recht herangewachsen6 wohl gebildet und Ihnen viele Freude machen.
Schlüßlich bitte ich Sie noch mir Ihre Gewogenheit immer zu schenken; so wie ich stetz7 mit der größten Achtung bin

Hochgeschätzter Freund
Ihre Dienerin
Mde de Saint Lubin,
mère de Léon de St. Lubin
élève de Monsieur Sphor8.

Wien d 10ten May
824

P.S. Den Brief an mich bitte
auf diese Art zu adressiren
Madame
Madame de Saint Lubin
abzugeben in dem Kunsthand-
lungs-Gewölbe des Herrn
Steiner auf den Graben im
Pater noster Gässchen

Autor(en): Saint-Lubin, (Madame) de
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Saint-Lubin, Léon de
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Wien
Erwähnte Institutionen: Josefstädter Theater <Wien>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1824051041

Spohr



[1] Sic!

[2] „kann“ über der Zeile eingefügt.

[3] „sort brillant“ (frz.) = „glänzendes Schicksal“.

[4] Sic!

[5] Hier gestrichen: „itzt“.

[6] Hier gestrichen: „seyn“.

[7] Sic!

[8] Sic!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.08.2022).