Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,61
Druck: Eduard Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 78f. (teilweise)

Sr. Wohlgeb
Dem Herrn Wilhelm Speyer
in
Offenbach a/m


Cassel den 19ten April
24.

Geliebter Freund,

Einliegend erhalten Sie den Brief an Guhr1 und die Quittung über das Honorar. Ich habe Guhr gedankt, doch nichts von verfehlten Tempis geschrieben; daß ist für mich, der ich von der dortigen Aufführung selbst nichts gehört habe, eine kitzliche Sache! Sie, meyne ich, könnten ihn mit Ehre darauf aufmerksam machen, daß er mehrere Tempi nicht so nehme, wie sie im Clavierauszuge nach dem Metronom bezeichnet seyen. –
Für Ihre Bemerkungen, die für Ihre Theilnahme zeugen, danke ich herzlichst. Die Reminiszenzen, die Sie aufgefunden haben, sind indessen so unbedeutend und so wenig auffallend, daß ich solche in jedem Musikstück eines jeden Komponisten mir aufzufinden getraue. Wichtiger ist das, was Sie von Lieblingsmodulationen und solchen Cadenzen und Gesangsfiguren sagen und wohl gegründet, wie ich das selbst fühle. Allein, sobald sich einmal der Styl eines Komponisten formirt hat, so kann er aus diesem schwerlich je ganz heraustreten und er wird so gut daran erkannt werden können wie z. B. Göthe und Jean Paul an dem ihrigen. So sind unter den Komponisten Cherubini, Mehul, Beethoven, Weber u. viele andere sogleich zu erkennen, und es wird schwerlich einem von ihnen gelingen, seine Eigenthümlichkeit in einem größeren Werke völlig zu verläugnen. Die Eigenthümlichkeit des Styls liegt aber eben in dem häufigen Wiederkehren von Lieblingsmodulationen, Lieblingsmelodien und Cadenzen und selbst Mozart, der reichbegabteste von allen, konnte eine Familien-Ähnlichkeit zwischen seinen Werken nicht vermeiden, die am auffallendsten zwischen Cosi fan tutte und der Zauberflöte und Idomeneo und Don Juan hervortritt. Auch er hat einen fixierten Styl, den man in allen seinen Sachen wieder erkennt. – Indessen werde ich doch über mich wachen, daß ich solche Lieblingswendungen vermeide, wo sie mit dem Karakter des Singenden in Widerspruch stehen.
Meine neue Oper hat ein reiches, sehr ansprechendes Sujet. Der Plan und die Szenenfolge sind von mir. Zuerst hatte ich ihn Gehe zur Bearbeitung zugesandt, er hatte mir aber ein solches Monstrum daraus gemacht, daß ich ihm seyn Honorar überschickte, sein Werk aber gleich zu Seite legte. Die 2te Bearbeitung von Döring ist im ganzen sehr gelungen; einzelnes läßt sich noch leicht verbessern. Ich hatte ihm zur Bedingung gemacht den Reim durchaus zu vermeiden. Dadu[rch] hat das Ganze an Wahrheit und Karakte[r] unendlich gewonnen. Ich werde Ihnen das [Buch] sowie das, was ich bis dahin fertig gemacht [haben] werde, zur Ansicht mitbringen.

Herzliche Grüße. Mit unveränderter Freundschaft
der Ihrige
L. Spohr

NS. Was Sie in Ihrem Briefe von der Ähnlichkeit zwischen Tristan’s Arie und dem Liede Ali’s sagen, beruht wirklich nur auf dem Vorschlag [Nbs]. Dieß ist aber eine häufig in Spanischen National-Melodien vorkommende Gesangfigur, mit der ich in guter Absicht beyden benannten Musikstücken einen National-Karakter aufdrücken wollte. Zu gleichem Behuf ist die Figur des Accompagnements gewählt [Nbs]



Dieser Brief ist die Antwort auf Speyer an Spohr, 16.04.1824. Speyer beantwortete diesen Brief am 08.05.1824.

[1] Dieser Brief ist verschollen.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.02.2016).

Cassel, 19. April 1824.

... Für Ihre Bemerkungen, die für Ihre Teilnahme zeugen, danke ich herzlichst. Die Reminiszenzen, die Sie aufgefunden haben, sind indessen so unbedeutend und so wenig auffallend, daß ich solche in jedem Musikstück eines jeden Komponisten mir aufzufinden getraue. Wichtiger ist das, was Sie von Lieblingsmodulationen und solchen Kadenzen und Gesangsfiguren sagen, und recht gegründet, wie ich das selbst fühle. Allein, sobald sich einmal der Stil eines Komponisten formiert hat, so kann er aus diesem schwerlich je ganz heraustreten und er wird so gut daran erkannt werden können wie z. B. Goethe und Jean Paul an dem ihrigen. So sind unter den Komponisten Cherubini, Méhul, Beethoven, Weber und viele andere sogleich zu erkennen, und es wird schwerlich einem von ihnen gelingen, seine Eigentümlichkeit in einem größeren Werke völlig zu verleugnen. Die Eigentümlichkeit des Stils liegt aber eben in dem häufigen Wiederkehren von Lieblingsmodulationen, Lieblingsmelodien und Kadenzen, und selbst Mozart, der reichbegabteste von allen, konnte eine Familienähnlichkeit zwischen seinen Werken nicht vermeiden, die am auffallendsten zwischen ,Cosi fan tutte’ und der ,Zauberflöte’, und ,Idomeneo’ und ,Don Juan’ hervortritt. Auch er hat einen fixierten Stil, den man in allen seinen Sachen wiedererkennt. Indessen werde ich doch über mich wachen, daß ich solche Lieblingswendungen vermeide, wo sie mit dem Charakter des Singenden in Widerspruch stehen ...
Meine neue Oper hat ein reiches, sehr ansprechendes Sujet. Der Plan und die Szenenfolge sind von mir. Zuerst hatte ich ihn Gehe zur Bearbeitung zugesandt, er hatte mir aber ein solches Monstrum daraus gemacht, daß ich ihm sein Honorar überschickte, sein Werk aber gleich zu Seite legte. Die zweite Bearbeitung, von Döring, ist im ganzen sehr gelungen ... Ich hatte ihm zur Bedingung gemacht, den Reim durchaus zu vermeiden. Dadurch hat das Ganze an Wahrheit und Charakter unendlich gewonnen. Ich werde Ihnen das Buch sowie das, was ich bis dahin fertig gemacht haben werde, zur Ansicht mitbringen.
Mit unveränderter Freundschaft, usw.
L. Spohr.