Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,221
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 76ff. (teilweise)

Herrn
Hofkapellmeister Louis Spohr
Wohlgeborn
Cassel
in Hessen.


Offenbach am 16 April 1824.

Theurer Freund!

Die Aufträge, welche Sie mir in Ihrem so eben angekommenen Briefe ertheilen, werde ich morgen bestens besorgen. Was das Honorar der Jessonda betrifft, so dächte ich, Sie schreiben an Guhr, daß er mir 20 Ld’ors für Ihre Rechnung bezahlen möge; sogleich danken Sie ihm für die Muße und Aufmerksamkeit die er verwendet, für die schöne Ausstattung u.s.w. welches Alles ich Ihnen mitgetheilt hätte. Ferner bitten Sie ihn, den Metronom im Klavierauszug zu berichtigen, da Ihnen die Erfahrung gelehrt, daß besonders im 1 Akt die Tempi leicht vergriffen werden. Schreiben Sie mir umgehend diesen Brief, damit ich ihn selbst an Guhr übergeben kann; legen Sie mir eine Quittung über 20 Ld’or bei, welche ich ihm nach erfolgter Zahlung einhändige. – Auf diese Art, erhalte ich Veranlassung mit Guhr über die Tempi zu sprechen, und ihm meinen Metronom anzubieten (denn es giebt in Ffurt keinen einzigen). – Allein versäumen Sie nicht, mir umgehend diesen Brief zu schicken, damit die nächste Aufführung der Jessonda davon Vortheil habe. – Sie werden aus dem Gesagten leicht entnehmen können, wie unzufrieden ich mit der letzten Aufführung der Jessonda war. Die Tempi wurden im ersten Akt so verschleppt, daß ich beim Finale nicht mehr aushalten konnte und die Loge verließ. – Ohne besondere Veranlassung ist es schwer, Guhrs Eitelkeit zu besorgen, indessen glaube ich, auf die obige Weise wird es gehen.
Sehr gern hätte ich den Text des Rübezahl gelesen. In jetziger Zeit kann die vortrefflichste Musik, kaum geboren der Vergessenheit geweihet werden, wenn der Text nicht zweckmäßig und effectvoll geschrieben ist. – Bei den Erfahrungen welche Sie in dieser Hinsicht ge[macht ist] es zu glauben, daß Sie von dem Erfolg des Stücks im Voraus überzeugt sind, um Ihre Kunst nicht an einen unwürdigen Gegenstand zu verschwenden. Indessen bei eigner Unfehlbarkeit schützt das Urtheil eines Andern auch nicht. – Ich bin überzeugt, daß Sie das Stücke einem vollkommen bühnenkundigen Mann zur Einsicht vorgelegt haben. –
Da die Oper, welche Sie gegenwärtig bearbeiten, vielleicht Ihrem Namen einen neuen Ruhm bereiten wird, so erachte ich es für mene Pflicht, einige Bemerkungen über Jessonda und ihre letzten Compositionen überhaupt, niederzuschreiben. – Zwar hatte ich mir vorgenommen, diesen Gegenstand mündlich mit Ihnen zu verhandeln, allein ich wage es jetzt schon, da Ihre neue Schöpfung schon im Werden ist und manche meiner Beobachtungen darauf Einfluß haben kann. – Daß ich hierbei keine andere Absicht als die freundschaftlichste Teilnahme habe, bedarf keiner Betheuerung. So wie in neuester Zeit manche Componisten weniger durch wahre Kunstmittel als durch Schein auf das Publikum zu wirken suchen, so gibt sich bei Ihnen das Gegentheil kund, indem Sie, auch in Ihren früheren Compositionen, stets durch Natur und Wahrheit zu wirken suchen. Indessen scheint es mir, daß Sie im Bewußtsein, das Wahre und Rechte zu wollen, gewisse Vorsichtsmaßregeln nicht berücksichtigen, welche so leicht zu beobachten sind und von Übelwollenden so schwer gedeutet und so gerne benützt werden, um ein Meisterstück in den Augen des Publikums herabzuwürdigen. – Denn wie wenig Aufmerksamkeit gehört dazu, Reminiszenzen der Art zu vermeiden, wie sie in Jessonda einige Male vorkommen. Wie wenig Wert legt ihnen der wahre Kunstfreund und Kenner bei, sich an die höhere Bedeutung des Werkes haltend. – Allein, eben weil sie mit ein wenig Aufmerksamkeit zu vermeiden sind und von der Beobachtung dieser Kleinigkeiten in concreto viel abhängt, so würde Sie wohlthun, etwas umsichtiger zu sein. – Von Reminiszenzen, welche nur den Tiefeingeweihten auffallen, rede ich nicht einmal. Lassen Sie mich einige [andere noc]h anführen. Zuerst die Figur in der Einleitung der Ouvertüre, obgleich durch die Choral Melodie verändert, erinnert an Mehul’s Joseph, Seite 21, die beiden ersten Takte: Osmin’s Arie in der Entführung, Seite 45, die letzten drei Takte: Figur und Melodie aus der Arie des Pagen im Figaro u.s.w. Allein noch etwas fällt mir auf, dem schwerer abzuhelfen ist, und wo die Abhilfe um so mehr Noth thut. – Ich meine gewisse Lieblings Modulationen, z. B. halbe Schluß Cadenzen in der Oberterz, fast in jedem Stück mehrmals vorkommend, verminderter Septimenakkord ohne Veranlassung, und ganz besonders manche Sätze, welche, im Charakter und der Form nach schon früher von Ihnen geschaffen worden, Ihrer Phantasie wieder vorgekommen sind und mit aller Gemächlichkeit abermals niedergeschrieben werden. Ich führe Ihnen zum Beispiel Tristans Arie in Gmoll an, welche in Form und Charakter der Arie Alis in Zemire gleicht und die Ihnen bestimmt dabei vorgeschwebt hat, welches unter andern durch den Vorschlag [Nbs] der in beiden Stücken vorkömmt, beurkundet wird. Dieses Vermeiden der Form- und Charakter Aehnlichkeit sowie der allzu häufigen Lieblings Ausweichungen und Figuren, unter welchen letzteren ich auch diese [Nbs] rechne, ist weit schwerer als die Unterlassung der Reminiszenzen.1 – Im 3. Akt der Jessonda ist keine Spur jener Ausstellungen zu entdecken, weshalb er mir am besten behagt. – Schreiben Sie meine Freimüthigkeit lieber Freund! der innigen Freundschaft zu, die ich für Sie hege, und dem Wunsche, daß aus Ihrem Rübezahl2 ein hohes Meisterwerk, frei von den kleinsten Flecken hervorgehen möge. – Spielen Sie Ihrer Frau jede neucomponirte Nummer vor; es ist der beste Areophag.3
Nach der 3. Aufführung der Jessonda schreibe ich Ihnen; senden Sie mir zugleich jenen verlangten Brief. – Mit herzl. Freundschaft

WmSpeyer.

Grüßen Sie H. Ries – Es sind keine Briefe für ihn da



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Speyer, 14.04.1824. Spohr beantwortete diesen Brief am 19.04.1824.

[1] Vgl. „Chronik der Frankfurter National-Bühne”, in: Iris (1824), S. 137f., hier S. 138

[2] Der Berggeist.

[3] Gerichtshof im antiken Athen (zum Verständnis in den 1820er-Jahren vgl. z.B. Moritz Hermann Eduard Meier und Georg Friedrich Schömann, Der attische Prozess, Halle 1824, S. 9 u.ö).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.02.2016).

Offenbach, 16. April 1824.

... Da die Oper, welche Sie gegenwärtig bearbeiten, vielleicht Ihrem Namen einen neuen Ruhm bereiten wird, so erachte ich es für mene Pflicht, einige Bemerkungen über ,Jessonda’ und ihre letzten Kompositionen überhaupt niederzuschreiben. Zwar hatte ich mir vorgenommen, diesen Gegenstand mündlich mit Ihnen zu verhandeln, allein ich wage es jetzt schon, da Ihre neue Schöpfung schon im Werden ist und manche meiner Beobachtungen darauf Einfluß haben könnten. Daß ich hierbei keine andere Absicht als die freundschaftlichste Teilnahme habe, bedarf keiner Beteuerung ... So wie in neuester Zeit manche Komponisten weniger durch wahre Kunstmittel als durch Schein auf das Publikum zu wirken suchen, so gibt sich bei Ihnen das Gegenteil kund, indem Sie, auch in Ihren früheren Kompositionen, stets durch Natur und Wahrheit zu wirken suchen. Indessen scheint es mir, daß Sie im Bewußtsein, das Wahre und Rechte zu wollen, gewisse Vorsichtsmaßregeln nicht berücksichtigen, welche so leicht zu beobachten sind und von Übelwollenden so schwer gedeutet und so gerne benützt werden, um ein Meisterstück in den Augen des Publikums herabzuwürdigen. Denn wie wenig Aufmerksamkeit gehört dazu, Reminiszenzen der Art zu vermeiden, wie sie in ,Jessonda’ einige Male vorkommen. Wie wenig Wert legt ihnen der wahre Kunstfreund und Kenner bei, sich an die höhere Bedeutung des Werkes haltend. Allein, eben weil sie mit eine wenig Aufmerksamkeit zu vermeiden sind und von der Beobachtung dieser Kleinigkeiten in concreto viel abhängt, so würde Sie wohltun, etwas umsichtiger zu sein. – Von Reminiszenzen, welche nur den Tiefeingeweihten auffalen, rede ich nicht einmal. Lassen Sie mich einige andere aunführen. Zuerst die Figur in der Einleitung der Ouvertüre, obgleich durch die Choralmelodie verändert, erinnert an Méhuls ,Joseph’, Seite 21, die beiden ersten Takte: Osmins Arie in der ,Entführung’, Seite 45, die letzten drei Takte: Figur und Melodie aus der Arie des Pagen in ,Figaro’ usw. Allein noch etwas fällt mir auf, dem schwerer abzuhelfen ist und wo die Abhilfe um so mehr not tut. Ich meine gewisse Lieblingsmodulationen, zum Beispiel halbe Schlußkadenzen in der Oberterz, fast in jedem Stück mehrmals vorkommend, verminderter Septimenakkord ohne Veranlassung, und ganz besonders mache Sätze, welche, im Charakter und der Form nach schon früher von Ihnen angewandt worden, Ihrer Phantasie wieder vorgekommen sind und mit aller Gemächlichkeit abermals niedergeschrieben werden. Ich führe Ihnen zum Beispiel Tristans Arie in G-Moll in ,Jessonda’ an, welche in Form und Charakter der Arie Alis in Ihrer Oper ,Zemire und Azor’ gleicht und die IHnen bestimmt dabei vorgeschwebt hat. Dieses Vermeiden der Form- und Charakterähnlichkeit sowie der allzu häufigen Lieblingsausweichungen und Figuren, unter welchen letzteren ich auf diese.
[Nbs]
rechne, ist weit schwerer als die Unterlassung der Reminiszenzen. Im dritten Akt der ,Jessonda’ ist keine Spur jener Ausstellungen zu entdecken, weshalb er mir am besten gefällt. Schreiben Sie meine Freimütigkeit, lieber Freund, der innigen Freundschaft zu, die ich für Sie hege, und dem Wunsche, daß aus Ihrem ,Berggeist’ ein hohes Meisterwerk, frei von den kleinsten Flecken, hervorgehen möge ... Spielen Sie Ihrer Frau jede neukomponierte Nummer vor; es ist der beste Areopag! ...