Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,38

Cassel den 6ten Juli
22.

Geliebter Freund,

Verzeihen Sie, daß ich Ihren letzten Br. erst jetzt beantworte. Geschäfte und Zerstreuungen haben es bis heute verzögert. – Durch Ihr Nichtkommen haben Sie uns eine große Freude verdorben; alles war zu Ihrem Empfang vorbereitet. Noch am Tage vor Pfingsten ehe ich Ihren Brief erhielt, glaubten wir in jedem Wagengeräusch Ihre Ankunft verkündigt zu hören.
Nun vor allem, zwar spät, aber nicht weniger herzlich unsern Glückwunsch zur Vermehrung Ihrer Familie.1 Hoffentlich ist alles gesund bey Ihnen und Sie recht heiter und lebensfroh im Kreise Ihrer Familie. – Wäre es Ihnen doch möglich uns im Herbst zu besuchen! Denn ich werde schwerlich in diesem Jahr Cassel verlassen können und vor nächstem Frühjahr woh[l] nicht nach Frankfurt kommen. Dann wird aber auch meine Oper fertig seyn und ich werde diese dann vielleicht zu gleicher Zeit dort in Scene gesetzt sehen können!
Der erste Akt ist jetzt ganz fertig. Die Oper ist durchaus in Recitativen, ein Genre das ich fast nicht leiden konnte, allein, bey dieser war es unerläßlich. – Ich hoffe, sie wird allen, die Sinn und Gefühl für genau(?) diese Musik haben als mein bestes Werk der Gattung erscheinen. Dem großen Haufen wird sie freylich ebenso wenig gefallen wie meine andern Opern. Es ist mir nicht gegeben diesem zu gefallen; wenn ich es aber auch könnte, so mögte ich es nicht, [da] mir dann mein Werk selbst nicht mehr genügen könnte und ich alle Freude daran verlieren würde. –
Unser Direktor2 hat eine Reise nach Wien und auf dieser herrliche Aquisitionen für unser Theater gemacht, so daß unser Gesangspersonal von Ostern an vielleicht eines der besten in ganz Deutschland seyn wird. Da nun unser Orchester auch täglich besser wird und sich jetzt schon sehr ehrenvoll auszeichnet, so werde ich in der Folge über Kunstmittel zu gebieten haben, wie sie selten zusammen existiren. Hier werde ich alle meine Opern wenigstens in großer Vollendung geben3 und so ihres Erfolges gewiß seyn können. – Zemire und Azor wird nun wohl bis Ostern ruhen, weil Dem. Braun unsere jetzige erste Sängerin der Parthie der Zemire nicht gewachsen ist. Den Faust denke ich aber im September zu geben, weil wir für die Kunigunde in Dem. Dietrich eine passende Sängerin besitzen. – Die neue Oper wird natürlich nicht vor dem Eintreffen der neuen Sänger gegeben werden.
Der von mir nun errichtete Gesangverein ist im schönsten Flor.4 Er besteht schon jetzt aus mehr als 50 Mitgliedern. Die 1ste Messe von Mozart, das Ave verum und besonders das Salve Regina von Hauptmann, (eine hinreißend schöne Komposition im ältern Form von Kirchenstyl.) gehen sehr gut, so gut, daß wir sie nächstens vor Zuhörern geben wollen. Nach dieser Production werde ich anfangen meine Messe einzuüben.
Meine neuen Quartetten sind in Arbeit und ich hoffe Ihnen bald das Dedicationsexemplar übersenden zu können.
Vor 8 Tagen habe ich ein sehr schönes Pianoforte von Streicher direkt von Wien erhalten und mit diesem mir unentbehrlichen Möbel ist nun unsere Einrichtung vollendet.
Erfreuen Sie mich nun bald mit einem recht langen Briefe. Von uns allen an die lieben Ihrigen die herzlichsten Grüße Ewig

Ihr
Louis Spohr.

NS. Ist das Concert bey André5 immer noch nicht fertig?



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Speyer an Spohr. Speyer beantwortete diesen Brief am 20.07.1822.

[1] Hier Bleistifteintragung auf dem Autograf, vermutlich von Edward Speyer: „Anton Speyer”.

[2] Karl Feige. Zur genannten Reise ist bislang nichts näheres bekannt.

[3] Hier gestrichen: „können”.

[4] Flor = Blüte.

[5] Spohrs Violinkonzert op. 55.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.02.2016).