Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Thomae:1

Cleve 23 Juny 1822

Mein bester, theuerster Freund:

Wir theilen das Geschick mit einander, daß Jeder seine Briefe mit Entschuldigungen seines Zögerns und seines langen Schweigens anzufangen hat, ich aber gestehe diesmal offenherzig, daß meine Sünde so groß ist, daß ich nur durch etwas Bekennen derselben und aufrichtige Reue solche abzubüßen jetzt kann, gern unterzieh ich mich jeder Reinigung, die Du mir aufzuerlegen angemessen erachten wirst und deshalb kein Wort weiter. Dochnun(???), der Eins sey mir zu sagen erlaubt, daß meine Gedanken, mein Herz u meine Wünsche stets bey Dir waren u Dich und die deinigen umschwebten, dieselbe Achtung, Freundschaft und Liebe beseelen mich, die ich Dir seit dem ersten Augenblick unsrer Bekanntschaft von ganzer Seele widmete!
Wir haben mit der lebhaftesten Theilnahme Deinen Ruf nach Cassel vernommen und uns dabey so viele Ehre, Ruhm und – nebenbey einen hübschen Gewinn (denn dies ist und bleibt doch immer in dieser sublunarischen Welt ein Hauptgrund) gedacht? und als gewiß verausgesetzt, daß unsre Freude übergroß war, – der Himmel wolle, daß wir uns eher zu wenig als zu viel vorgestellt? und daß deine jetzige Laufbahn – deiner ganz würdig sey, daß Jeder Dich nach Verdienst ehre, achte u würdige – daß er Dich ganz kennen! Dann, zweifle ich nicht, wirst Du zufrieden – glücklich seyn!
Hoffentlich befindest Du Dich mit deiner würdigen Gattin und Deinen Kindern recht, recht wohl und höchlich wirst Du mich erfreuen, wenn Du mir recht bald, wenn auch nur in ein Paar Zeilen, darüber die Versicherung ertheilst und mir zugleich einige Nachricht gibst über deine jetzige Lage, Verhältnisse und Deinen Wirkungskreis.
Uns hat seit meinem letzten Briefe1 ein recht harter Schlag getroffen, der uns um so mehr niederbeugte, als wir ihn noch2 nicht fürchten zu müssen glaubten und er so schnell eintrat. Mein guter Vater3, ein wahres Muster der Güte, Liebe und Sanftmuth, starb am 16 December vorigen Jahres, nachdem er noch nicht volle zwey Tage krank gewesen bis dahin aber vorher des besten Wohlseyns, sowohl in geistiger als physischer Hinsicht genossen hatte! Es war ein Donnerstag für uns, der uns zu Boden schmetterte! Drey Monate lang kränkelte ich und konnte mich lange nicht wieder erholen! Wie es meiner guten Therese ergieng, kannst Du Dich leicht vorstellen, da Du die gegenseitige Anhänglichkeit gesehen hast, die Sorgfalt und Aufmerksamkeit die Schwiegervater und Tochter an den Tag legten! Die gewissenhafte, liebreiche und immer gesetzten Sorge als meine Frau für ihn hatte: trug(???), haben seine Lebenstage erheitert und das Euch derselbe, daß bin ich gewiß so viel als möglich war, hinausgewirkt! Friede trug seinen [???], und der ewige Gott möge in seiner unverbesserlichen Güte ihm lohnen, was er mit und den Meinigen Gutes gethan!!
Der Seelige hat ein eigenhändiges Testament nachgelassen, worin er uns manchen Vortheil zugewendet hat, darüber ist mir meine Schwester die Frau Schniewind gram geworden, denn außer dieser, habe ich nur noch Eine Schwester, die aber sehr an epileptischen Zufällen leidet und außer Stand ist, für sich selbst zu sorgen noch ihr Vermögen zu verwalten. – Es wird sich hoffentlich jedoch mit der Zeit alles zum Besten neigen, da wir uns bewußt sind den Verstorbenen zu durchaus keiner Begünstigung für uns, beredet, noch darum gebeten haben. Zugleich hat er Jedem, seine Grundstücke zugetheilt, und Alles so wohlüberlegt eingerichtet, daß wir unter uns keine Vertheilung mehr zu machen habe, sondern Jeder gleich weiß, was er erhält.
Im Übrigen geht es mit meiner Frau und den Kindern, Gottlob! recht wohl, wir leben durchaus still eingezogen und häuslich und finden das wahre, einige Vergnügen nur in dem häuslichen Kreise. Meine gute Therese ist jetzt mit dem 15t Kind schwanger und gedenkt Ende August’s ihre Niederkunft zu halten.
Mein College, der Notar Hopmann ist vor etlichen Wochen plötzlich verstorben4, und dadurch mehren sich meine Geschäfte so sehr daß ich kaum mehr durchzukommen weiß; ich sitze immer in der Arbeit bis über die Ohren. Ich werde deshalb jetzt mein Bürgermeisteramt (oder wenn Du willst Baumeisteramt,) niederlegen, um den Notariatsgeschäften desto mehr und ungestörter obliegen zu können. – Die Regierung ist seit dem 1 Januar aufgehoben, dadurch hat die Stadt ausnehmend verloren, 76 Familien haben deshalb Cleve verlassen müssen; früher schon war das OberLandesGericht von hier nach Hamm verlegt worden. Als der König von Preußen im vorigen Jahr die Rheinprovinzen besuchte, wollte der Stadtrath einen Versuch wagen, denselben über die Beibehaltung der Regierung zu bitten, deshalb wurde ich mit zwey andern Mitgliedern commitirt dem König in Wesel eine Bittschrift zu überreichen, – wir konnten aber nicht vorgelassen werden, und reisten deshalb dem König nach Münster voraus, konnten dort nur mit großer Mühe unsre Bittschrift los werden – erhielten aber nicht die Gewährung unserer Bitte! Bis jetzt hat die Stadt durchaus keinen Ersatz erhalten, nur jetzt ist man mit Verschönerung des Thiergartens beschäftigt, der wirklich hübsch werden soll! Es mangelt aber leider! hier wie überall, an dem Nöthigsten dazu! überall Geldmangel wo man hinblickt.
Vierhaus empfiehlt sich euch bestens; er ist semper idem5! – Der Prediger v Essen hat seine Stelle niedergelegt. – Neigebauer (der Special) steht jetzt in Hamm, und ist häßlich in die Fonk’sche Criminalsache verwickelt6; er ist u war immer ein Chamäleon! trug immer auf beiden Schultern.
Voriges Jahr um Pfingsten war ich mit meiner Frau u Mina7 in Cöln zum Musikfeste, es waren ungefähr 400 Sänger u Instrumentisten zugegen, das Lokal herrlich! und alles auf das Beste, und zwar mit bedeutenden Kosten eingerichtet; wir blieben über 8 Tage dort und genossen viele, herzliche Vergnügungen. Am ersten Tage gab man Schneiders Weltgericht, den zweiten, Beethoven’s Symphonie C moll8, Naumann’s Vater Unser, Händels 100st Psalm; der Satan9 war (am ersten Tage) kränkelnd u schwindsüchtig u machte das Ganze verhalten, griff sich aber dennoch so sehr an, daß er wenige Wochen nachher gestorben ist. – In diesem Jahre Ende May’s war ich wieder zum Musikfest in Düsseldorf u hatte meinen Fritz10 mit genommen. Am ersten Tag gab man die Befreyung von Jerusalem von Max. Stadtler, den zweyten Beethovens Symphonie B Dur11, C.M. v. Weber’s Hymne: In seiner Ordnung schafft der Herr, u dessen Cantate, Kampf und Sieg, und die Ouverture aus der Zauberflöte. Das Personal war nicht so stark als in Cöln, und das Ganze gieng auch nicht so gut; doch that man Alles was möglich war. Das herrlichste Wetter begünstigte dieses Fest außerordentlich, die Stadt wimmelte vor Freude. Herr Maassen(???) suchte mich dort auf, und wir unterhielten uns recht lange von Dir. – Ich erneuerte dort die Bekanntschaft eines vortrefflichen, jungen Mannes, und sogleich eines Künstlers im edelsten Sinne, der dort die ersten Violinen anführte. Es ist das der Herr Johann Hermann Kufferath aus Mülheim an der Ruhr; in jeder Hinsicht [???] [???] würdig, wie ich nach den genauesten, eingezogenen Erkundigungen Dir versichern kann; er ist ganz für seine Kunst begeistert, wünscht sich mit allen nur möglicher Anstrengung, der er nur fähig seyn kann, immer noch darin zu vervollkommnen. Das beste Mittel ist nach seiner innigsten Ueberzeugung, Unterricht von Dir, und wünscht deshalb nichts sehnlicher als die Zusage von deiner Seite. Vermag ich jetzt nur Etwas bey Dich: so erzeige mir, besten Freund den Gefallen u die Freude, daß ich diesem jungen Manne, der Dir auf den ersten Blick, dessen bin ich sicher, gefallen wird, auf der Bahn des künstl. Fortschritts Du weit gewiß nie einen dankbareren, Dir mehr ergebenen Schüler gehabt haben! H. Kufferath (der beiläufig gesagt etwa 25 Jahre als seyn mag) hat mich drigend gebeten mich für ihn bei Dir zu verwenden, u so hoffe ich denn, daß Du um unserer Freundschaft willen ihn zu Deinen Schülern aufnehmen wirst. Ich schreibe heute auch an H. Kufferath! lege ihm ein Briefchen für u an Dich ein daß er Dir bey seiner Ankunft selbst überreichen wird.
Unser Musikdirector, Stumpf12, Sohn des Musikdirectors13 in Hildesheim, den uns der(???) H. Bischoff zugewiesen – u ein geschickter junger Mann ist, hat dieses Frühjahr eine Reise nach Hause gemacht und ist auf dem Rückweg durch Cassel gekommen, er hatte uns fest versprochen u wir hatten ihn gebeten, Euch zu besuchen u Euch unsre herzlichsten Grüße zu überbringen, aber er entschuldigte sich daß die Zeit es nicht erlaubt hätte.
Meine Frau trägt mir die herzlichsten Empfehlungen auf, empfiehl uns beide deiner braven Frau u Deinen Kindern angelegentlichst. Uebe ja nicht das Vergeltungsrecht gegen mich aus, sondern schreibe mir bald einige Zeilen.

Ewig der Deinige
Thomae



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Thomae, 04.05.1819. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Thomae, 21.03.1835.

[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[2] „noch“ über der Zeile eingefügt.

[3] Johann Heinrich Thomae.

[4] Vgl. „Personal-Veränderungen bei den Justiz-Behörden in dem Zeitraume vom 1sten April bis ult. Juny 1822“, in: Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung 19 (1822), S. 337-342, hier S. 342.

[5] „semper idem“ (lat.) = „immer dasselbe“.

[6] Vgl. Criminal-Prozedur gegen den Kaufmann Peter Anton Fonk aus Cöln, wegen der im November 1816 geschehenen Ermordung des Wilhelm Coenen aus Crefeld, Trier 1822, S. 480.

[7] Thomaes älteste Tochter Wilhelmina, später verh. Crönert.

[8] Op. 67.

[9] Rolle in Das Weltgericht.

[10] Friedrich Heinrich Ludwig Thomae.

[11] Op. 60.

[12] Adolph Stumpf.

[13] Georg Stumpf.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.12.2020).