Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Meiningen, d. 16ten Juny 1822

Heute fahre ich auf den Liebenstein den ich schon Einigemal von hieraus besuchet habe; dießmal bleibe ich aber ganz dort; die Gegend ist wahrhaft paradisisch! – Meine Begleiter sind der junge Prell u. Herr Nohr, dem ich freye Wohnung und freyen Tisch für Hülfe in der Oper ausgewirkt. – Die Kapelle bleibt noch bis Anfang July in Meiningen, was mir jetzt mehr als jemals todt vorkommt, da meine Hausfrau dem Tode nahe ist, u. ich deshalb seit 3 Wochen nicht musiciren konnte; – jetzt soll es aber anders werden, denn diese nächsten 14 Tage in Liebenstein will ich mich einschließen, um mich zu meiner Herbstreise vorzubereiten. Ich hoffe immer Ihr neuestes Konzert in D dann spielen zu können, jetzt hab ich jedoch die schöne Hofnung verloren, da es noch nicht einmal im Catalog angezeigt worden. –
Der Herzog hat für die Zeit meines Aufenthalts in Liebenstein1 dieselben Dieten für mich bestimmt, welche der Rath Werner u. der President von Bibra als Baddirektoren genißen; demnach habe ich freye Table d’hotes Vormittags u. Abends nebst Wein, u. auch Morgens und Nachmittags freyen Café. – Ach, seit 14 Tagen ist manches in und an mir vorgegangen! – Neulich, wie mein innres Gefühl noch langem Schlummer einmal wieder so recht wach wurde, ging ich zum Herzog, stellte ihm vor, daß ich unmöglich mit Vortheil für meine künstlerische Ausbildung länger2 an einem Ort bleiben könne, wo ich der Erste sey, daß ich des Wettkampfs mit jungen Leuten gleicher Kräfte bedürfe, u. bat ihn deshalb um3 meine Entlassung. –
Der Herzog, der liebe Mann, war ganz bestützt darüber u. sagte nichts drauf als fragen: „Ach nein?“. Nachdem meinte er, es würde sich ja schon machen laßen, und eins wurde wir auch, da er4 mir 6 Monate Urlaub bewilligte. – Dioese 6 Monate sind aber getheilt. – Dec., Jan., Febr. u. März bin ich in Meiningen, April, May, Juny hab ich Urlaub, July u. August bin ich in Liebenstein, Sept., Oct. u. Nov. hab ich wieder Urlaub. Diese Bedingungen waren zu einladend für mich, deshalb gab ich nach; wenn ich aber denke, daß ich diesen Winter 4 Monate wieder in Meiningen zubringen soll, da schaudert mich ordentlich.. – Denn Wagner, mein einziger Freund hier, geht in 6 Wochen auf die Akademie in Rom und bleibt dort einige Jahre, u. die Uebrigen haben so ordinaire, unkünstlerische Gesinnungen daß ich um keinen Preis mit ihnen umgehen möchte. Mit5 drey Familien bin ich, so zu sagen, befreundet; diese bilden einen Mittelstand zwischen dem6 Adel und den Bürgerlichen; es sind die Familien von Mosengeil, vom Regierungsrath Döbern u. von Werner, weil sie aber sich eine große Ehre daraus machen von irgend einem Adlichen eingeladen zu werden, so bezeichnet7 man sie hier sehr treffend mit dem Namen „Schwarzadel“! –
Wie ist8 es denn mit Ihrem Urlaub, lieber Herr Kapellmeister? wann gedenken Sie ihn zu benutzen? Werde ich Sie antreffen, wenn ich nach beendigter Badezeit (18 od. 20ten August) nach Cassel komme? Wie soll ich reisen? wegen meines diesjährigen Reiseplans bin ich noch höchst unentschlossen, ich bitte Sie deshalb um Ihren Rath, der mich noch immer zum Glücke führte. –
Für die Ouverture zu Faust u. den Irländer Porpourri danke ich nochmal recht herzlich u. schicke Ihnen beyde bey diesem Briefe zurück; damit es unversehrt zu Ihnen komme, hab ich mir bey dem Einpacken u viel Mühe gegeben, als nur in meinen Kräften stand. –
Ich grüße Ihre liebe Frau u. Emilie u. Ida u. ihre Schwägerin9 u. Ferdinand u. wünsche Allen Alles Gute

Mit innigster Liebe
Ihr
Eduard Grund. –



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Eduard Grund an Spohr, 25.05.1822. Das nächste erhaltene Schriftstück dieser Korrespondenz ist Eduard Grunds Nachschrift zu Wilhelm Grund an Spohr, 30.09.1822.

[1] Hier drei Buchstauben gestrichen.

[2] „länger“ über der Zeile eingefügt.

[3] „um“ nach gestrichenem „wo(???) doch“ über der Zeile eingefügt.

[4] „er“ über der Zeile eingefügt.

[5] „Mit“ über der Zeile eingefügt.

[6] „dem“ über der Zeile eingefügt.

[7] „bezeichnet“ über einem gestrichenen Wort eingefügt.

[8] „ist“ über gestrichenen „geht“ eingefügt.

[9] Wilhelmine Scheidler lebte mit im Haushalt der Familie Spohr.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2022).