Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, hrsg. v. Cecil Hill (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 27), Bonn 1982, S. 160f.

Monsieur
Monsieur L. Spohr
Directeur de Musique
a
Hessen Cassel
Germany


London 30 April 1822

Liebster Freund!

Lange habe ich gehofft, von Ihnen wenigstens einmal ein Wörtchen zu hören, ich glaubte Ihnen in Russland, und endlich erfahre ich, daß sie in Kassel angestellt sind. Unsre deutschen Künstler sollten die nach England verbanten (denn das ist der Künstler gewiß) doch nicht so ganz vergessen: wo wir im Schweiße unsres Angesichts wirklich unser tägliches Brod verdienen müssen – unterdessen muß ich mich nicht beklagen, indem ich höchstwahrscheinlich nur noch zwey Jahre hierbleibe. Wir leben hier in gewöhnlichem Laufe fort, außer daß man täglich mehr Gemeinheit und Niederträchtigkeit in unserer Profession sieht. Die Philharmonischen Concerten gehen noch fort, sind aber schlecht, und leider fühlt das Publikum es sowohl wie die Künstler, alle sagen es muß ein anderer Plan angenohmen1 werden: Ich habe mich von der Directorstelle zurückgezogen, weil ich mich unmöglich so gemein zanken kann: unsre Directoren sind die beyden Smart's, Horsley, der alte Dance, der kleine Potter, Latour (der berühmte), und Kramer vom König seines Militaire Bande2 – jeder hat seinen Protegé – und so geht es zu Grunde: im letzten Concert wurde Ihre schöne Sinfonie in Es gemacht, aber von Anfang bis zu Ende des Concerts wurde in jedem Stücke eine Sau gemacht. Kiesewetter und ein gewißer Masas von Paris sind dazu engagiert worden – man sagt Lafont und Vaccari sollen kommen. Daß ich aus der Royal Harmonic Institution heraus bin, wissen sie wahrscheinlich – meine Erfahrung kostet 1000 Pfund Sterl., daß hätte ich auch bleiben lassen können. Meine Frau3, die Ihnen und Md Spohr herzlich grüßen läßt, ist ziemlich wohl – meine beyden Kinder sind ganz außerordentlich wohl und stark. Die kleinste4 davon ist 18 Monathe alt, hat so ein gutes musikalisches Ohr, daß sie mich schlechterdings nichts anders als 6/8 Takt spielen lassen will, damit sie tanzen kann; sobald ich einen andern Takt spiele, nimmt sie mir die Hände vom Klavier. Ich hoffe, daß Sie Ihre liebe Familie ganz nach Wunsche wohl gefunden haben, und Ihre gute Frau nun recht glüklich unter Ihnen lebt.
Nun, lieber Freund, Ihren guten Rath. –
Mein jüngster Bruder5 hat die Violin zu seinem Wanderstabe gewählt. Er spielt recht brav – liebt Musik leidenschaftlich – Ihre Compositionen aber über alles. Bisheran hat er von meinem Vater nur Unterricht gehabt, (der zu seiner Zeit ein tüchtiger Violin spieler war). Er war bisheran immer bey meinem Vater6, hat also nichts weiteres gesehen noch gehört: bey meinem letzten Aufenthalte in Bonn (in July) versprach ich ihm fortzuhelfen oder wenigstens Gelegenheit zugeben. Kein Wunsch auf der Welt könnte mir für ihn angenehmer seyn, als diesen Jungen unter Ihren Leitung zuwissen. Ist dies möglich zu machen? – und wie? Ich höre daß das Orchestre unter Ihrer Direction vervolkomnet werden soll; wäre es möglich ihn dort unterzuschieben? sein Character ist gefällig und wirklich ganz unverdorben: er ist beynahe 20 Jahre alt. Wenn hiervon alles nichts geht, was können Sie mir rathen? Alles was Geld angeht, muß ich geben und will mit Freuden thuen was ich kann.
Mein Vater ist alt, hat durch den Krieg seine Stelle, Gehalt, Vermögen und Frau verloren – 10 Kinder sind ihm geblieben, und auch noch alle am Leben, er selbst bedarf meiner Unterstützung – alle meine Geschwister mehr oder weniger (außer meinem Bruder7, dem ich nun hier eine gute Stelle bey Broadwood verschafft habe) dieses alles würde ich Ihnen nicht gesagt haben, wenn ich nicht wegen meiner dringenden Bitte einer Entschuldigung bedürfte: Ich bin überzeugt, lieber Spohr, Sie vergeben mir dieses gerne; und ich sehe mit Sehnsucht einer baldigen [Antwo]rt von Ihnen entgegen. Alles Gute und Schöne von mir an Ihre geschätze Gattinn, leben Sie glüklich

Ihr
unveränderlicher Freund
Ferd. Ries



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Ries an Spohr, 10. und 12.09.1820. Spohrs Antwortbrief vom 13.05.1822 ist derzeit verschollen.

[1] Sic!

[2] Vgl. „Diessjährige Concerte der Philharmonischen Gesellschaft in London“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 24 (1822), Sp. 404-413, hier Sp. 404.

[3] Harriet Ries.

[4] Emily Ries.

[5] Hubert Ries.

[6] Franz Anton Ries.

[7] Joseph Ries.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.07.2019).