Autograf: bis mindestens 1943 im Besitz von Werner Wittich, danach Kriegsverlust (vgl. Druck, S. 14)
Druck: Louis Spohr, Briefwechsel mit seiner Frau Dorette, hrsg. v. Folker Göthel, Kassel und Basel 1957, S. 24-27

Dresden, den 18. Januar 1822

Mein geliebter Louis!

Dein „Magazin des Wundervollen” vom 14. Jan.1 habe ich gestern erhalten, wogegen mein „Alltagsblatt” vom 12. d. M. nun auch schon in deinen Händen sein wird.2 Was in aller Welt soll ich Dir nur heute schreiben, wenn ich nicht das alte Lied von Trennung, Sehnsucht, Nichtlängeraushaltenkönnen usw. anstimmen will? Ein Tag fängt bei uns an wie der andere; nämlich mit dünnem Kaffee, und hört mit Wandern in unser blaues Elysium auf, wo ich beim Schlafengehen auch immer mit den Gästen des Dir wohlbekannten Wirtshauses zum kalten Schweißhund ausrufen möchte: Nun will ich mich anziehen! – Wie wir die Zwischenzeit zubringen, weißt Du ja auch schon. Zehnmal des Tages klagt mir Emilie ihr „pizzica, mi stimola, un certo non sò che”3, was ihr Mieksch mit wohlangebrachten Seufzern und echten Silberlingen aus der falschen Catalani Armen-Büchse reichlich ausgestattet hat. – Ida jammert darüber, daß sie nun ihren mit so schönen griechischen Mustern angefangenen Beutel in deutscher Plumpheit vollenden muß. Sie meint, in politischer Hinsicht hättest Du Dich immer so für Alles Griechische interessiert – sie hingegen mit ihrer Angelegenheit schändlich im Stich gelassen. Ihr zweiter Kummer ist: daß ihre Kehle das mi durchaus nicht gutwillig hergeben will. Als sie gestern in der Singstunde es durch vermehrtes Drücken erzwingen wollte, es ihr aber doch immer wieder versagte, fing Miecksch in seiner bekannten Weise an: Nun, Sie werden sich wohl noch bespeien! –
Therese läuft dem tollen Böhner gleich kostumiert, in ihren roten Saffianstiefeln im Zimmer herum und singt in lauter selbst komponierten Rezitativen: Ich muss mich fassen – denn mein Vater ist nach Kassel – u.d.m. Hauptmann besucht uns öfter und versorgt mich mit Brocken gegen den literarischen Hungertod, wovon diejenigen, die ihre Existenz dem J. Paul verdanken, oft Zähne lassen. Ich schlucke sie jedoch mutig hinunter wie jener Bauer die aus versehen unter die Ostien gekommene knöcherne Spielmarke, die ihm der Prediger bei Austeilung des heiligen Abendmahles in den Mund steckte. – Während nun dieser eine Freund unsern Geist aufrecht zu erhalten sucht, strebt der andere aus der Patientenburg am Trompeter-Pförtchen unsre Leiber zu untergraben, wie Emilie steif und fest behauptet, denn kaum fing dem bei Deiner Abreise noch so vollwangigen Mond die rechte Backe an etwas einzufallen, so war er auch schon wieder mit seinem Mittelchen zur völligen Beruhigung (sein gewöhnlicher Ausdruck) der Halsdrüsen bei der Hand, gegen welchen Gebrauch sich Emilie anfangs gewaltig sträubte. –
Daß unser Feind und Mißgönner von Reibnitz nun gen Main gezogen und sodann dieser Kelch an mir vorübergegangen, ist mir im Grunde gar nicht lieb. Dem hätte ich gern einmal wieder eine Beule gedrückt, wie mir wohl in früheren Zeiten schon zuweilen gelungen ist. –
Freund Peters muß für sein neugeborenes Kindlein neue Windeln gekauft haben, denn von den 200 Rth., die er mir schicken sollte, habe ich noch nicht einen halben gesehen. Ich dächte, zu diesem Gebrauch hätten sich genug alte, nur mehr wie zu trockene Ladenhüter unter seinen Verlags-Artikeln finden lassen; weniger würde ich einige neuere Werke dazu vorgeschlagen haben, am allerwenigsten Rossini'sche, wobei das arme Mägdlein wohl mögte dabei vom Regen in die Traufe gekommen sein.
Gestern abend waren wir bei unserer Frau Wirtin4 zu Gaste, auf ein Gericht Kartoffeln. Meine Besorgnis, daß hinter der Montur wieder neue Tücke lauern würde, war aber diesmal unbegründet; denn sie war die Liebenswürdigkeit selbst.
Ob ich dir beiligenden Brief5 mit seinen verrenkten Redensarten schicken sollte oder nicht – darüber war ich lange unschlüssig; da jedoch des armen Studiosus Heil und Seligkeit von der Gewährung seiner Bitte abzuhängen scheint, so darf ich wohl dem Schicksal nicht vorgreifen, welches ihn nun vielleicht, durch dich geleitet, anstatt nach Dresden nach Kassel schleudern wird. Starke Nerven – auch ein Erfordernis zum Geigenspielen – muß der Mensch haben. Mir lief es eiskalt über den Rücken, als ich bemerkte, daß er sich mit der Schärfe des Federmessers gezogen hatte, was besonders auf dem Couvert, wo ihm nach drei mißlungenen Versuchen, durch die er den Herrn Kapellmeister hatte stützen wollen, der vierte doch verunglückt war – doppelt schauderhaft anzusehen ist. –
Es scheint, als wolle Mine6 in Zukunft bei uns den Generalstab führen und mit Verachtung auf das übrige weibliche Personale herabblicken, weil ihr so sehr nach Türk und Kirnberger gelüstet! Doch sobald wir auf dieses Kapitel kommen, heißt es bei mir: Scherz beiseite. Empfange, mein lieber, herrlicher Louis, meinen wärmsten Dank für alles, was Du an meiner Schwester bereits getan hast und noch tun willst, was allein mich über meinen so schmerzlich erlittenen Verlust nach und nach wird trösten können. Nur wenn die reinste Liebe, treueste Anhänglichkeit und innigste Dankbarkeit
dazu hinreichen, getraue ich mir Dir einigermaßen vergelten zu können – – –
Lebe wohl. Herzliche Grüße von den Kindern

Ewig Deine Dorette.



Dieser Brief ist die Antwort auf Louis Spohr an Dorette Spohr, 13.01.1822. Der Postweg dieses Briefs überschnitt sich mit Louis Spohr an Dorette Spohr, 18.01.1822 und 24.01.1822. Louis Spohr beantwortete diesen Brief am 31.01.1822.

[1] Louis Spohr hatte seinen Vorbrief offensichtlich falsch datiert.

[2] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[3] Folker Göthel identifiziert in seinem Kommentar dieses Briefs mit der Arie „Mi pizzica” von Marcos António Portugal (in: Spohr, Briefwechsel mit seiner Frau, S. 91, Anm. 31; vgl. RISM).

[4] Noch nicht ermittelt.

[5] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[6] Dorettes Schwester Wilhelmine Scheidler.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.12.2016).