Autograf: bis mindestens 1943 im Besitz von Werner Wittich, danach Kriegsverlust (vgl. Druck 1, S. 14)
Druck 1: Louis Spohr, Briefwechsel mit seiner Frau Dorette, hrsg. v. Folker Göthel, Kassel und Basel 1957, S. 20-23
Druck 2: Philippe A. Autexier, Lyra Latomorum. Das erste deutsche Freimaurerliederbuch. Masonica über Haydn Mozart Spohr Liszt, o.O. o.J., S. 337f.

Gotha, den 14. Januar 22
Sonntag früh 9 Uhr1

Herzlich geliebtes Weibchen,

Es kommt mir vor, als wenn ich schon 6 Wochen von Euch entfernt wäre, und die Sehnsucht nach Dir überfällt mich oft wie ein Fieberschauer; wäre doch die Zeit erst um.
Ich habe Dir von hier viel Wichtiges zu schreiben, will daher die Reise nur mit ein paar Worten erwähnen. Am ersten Tage fuhren wir bis diesseits Naumburg, wo wir wieder ein recht schlechtes Nachtlager hatten. Am 2. Tage zu Mittag waren wir in Weimar. Müller2 bat mich sehr, ihm durch mein Zeugnis und eine Vorbitte bei der Jagemann eine Unterstützung von dem Herzoge zu verschaffen, weil er sonst außerstande sei, noch einmal wegzugehen. Ich ging in Reisekleidern zu ihr und fand die alte Schlick dort. Diese heulte mir ein Stückchen vor über ihren verwilderten Jungen und bat mich, ihm ein Plätzchen in der Kasselschen Kapelle zu verschaffen.3 Ich werde mich hüten. – Die Jagemann sagte mir ihre Vorsprache zu; sie hat sehr gealtert und ist enorm dick geworden. Wir kamen hier abends 8 Uhr an und traten im Riesen ab. Schade, Bärwolf4 und Schramm kamen noch abends um 10 Uhr zu uns und so wurde die Hälfte der Nacht verplaudert. Diese sagten mir schon, der Hof habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben mich zu gewinnen und es würden mir Anträge gemacht werden. Ich lachte darüber und ließ bei niemand die Idee aufkommen. Am andern Morgen erfuhr ich dann von Salisch, der mich mit außerordentlicher Herzlichkeit aufnahm, die ganze Lage der Sachen. Reibnitz besaß vom Herzog ein briefliches Versprechen, daß er Intendant der Kapelle werden solle, und trotz dem öffentlichen Widerstreben aller dabei Interessierten hatte der Herzog sich vorgenommen, die Sache durch Machtspruch durchzusetzen. Reibnitz hatte übrigens der Herzogin vorgespiegelt, er würde nicht eher ruhen, als bis ich hier wieder engagiert sei; sein Ernst war es aber nicht, weil er 500 Rth. von der Besoldung zu erschnappen hoffte. – Am Ende wurde er dem Herzog durch seine Zudringlichkeit ebenso zuwider wie allen andern und das Finale war, daß man ihm seine Ansprüche mit 100 Carolin abkaufte. Nun ist er auf neue Abenteuer nach Frankfurt am Main ausgezogen. – Sobald es am Hofe bekannt wurde, daß ich in Kassel engagiert sei, äußerte nicht nur die Herzogin, sondern auch der Herzog laut ihr Mißvergnügen, mich durch die Reibnitzsche Geschichte verloren zu haben, und der Graf war von beiden beauftragt worden alles zu versuchen, um mich noch zu gewinnen. Er machte mir folgenden Antrag: Man werde hier die Stelle ein halbes Jahr noch unbesetzt lassen, um zu sehen, ob es mir in Kassel gefiele und ob ich Lust habe zeitlebens dort zu bleiben. Sollte dies nicht der Fall sein, so möge ich es schreiben; dann könne ich in dem Augenblick die Stelle hier mit 1400 Rth. Gehalt erhalten und brauche mich nur anheischig zu machen, in der ersten Hälfte eines jeden Winters hier zu sein. Ich ließ mir diesen Antrag gefallen und machte nur die Bedingung, daß außer ihm und mir kein Mensch etwas davon wissen dürfte. Darauf gab er mir sein Maurerwort. – Er führte mich darauf gleich zur Herzogin, die die Liebenswürdigkeit selbst war. Sie äußerte allerlei, was auf den Antrag von Salisch Bezug hatte, z.B. wie ich Abschied nahm, sagte sie: Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß es Ihnen wohlgehen möge, aber das wünsche ich nicht, daß es Ihnen in Kassel gefalle, nun! Wo es einem nicht gefällt, da braucht man ja nicht zu bleiben! – Für die Dedikation dankte sie sehr und entschuldigte sich, daß sie mir nicht gleich geschrieben habe; sie hatte unsere Adresse in Dresden nicht gewußt. – Wie ich von ihr wegging, kam Salisch von Herzoge heraus und sagte, er wünsche mich abends halb 5 zu sprechen. Auch dieser empfing mich sehr herzlich und äußerte viel Wohlwollendes. Beim Abschiede bat er mich, recht oft nach Gotha zu kommen und dem Hofe oft das Vergnügen zu verschaffen mich zu hören usw. – Die Stadt und Kapelle hat übrigens alle Hoffnung aufgegeben mich hier zu sehen und jeder, der mir begegnet, äußert sein Bedauern.
Mine wird noch heute zu Mad. Grosch5 ziehen, die monatlich 15 Rth. Kostgeld verlangt. Ich werde Minen 4 Louisdor dalassen, damit sie ihre nötigsten Bedürfnisse anschaffen kann. Einen sehr hübschen Mantel von Merino hat sie übrigens schon. – Sie soll sehr gut Piano spielen; das Rondo von mir in E-dur spielt sie ohne allen Anstoß, wie sie mir sagt. Sie hat größte Lust sich das Quintett einzuüben. Ich werde ihr von Peters Musik kommen lassen. Sie möchte gern Generalbaß lernen. Schicke ihr doch mit der fahrenden Post Türks Generalbaß-Schule; sie liegt bei den Büchern im Koffer. – Von Kassel aus werde ich Dir erst einige Tage nach meiner Ankunft schreiben. Erwähne in Deinen Briefen der hiesigen Angelegenheiten nicht. Es könnte doch leichter einmal etwas davon laut werden. Ich küsse Dich 1000mal. Herzliche Grüße an die Menscher und Schnoddel6-Kanaillen.
Lebe wohl.

Dein Louis.

NS. Heute mittag reise ich ab. Schramm begleitet mich. – Salisch war soeben noch einmal bei mir und wiederholte alles Gestrige. Er warnte mich, von Kassel aus nichts Persönliches zu schreiben. Der Post sei nicht zu trauen. Ich werde also in meinen Briefen von den dortigen Verhältnissen wenig schreiben. – Grund grüßt dich tausendmal.



Dieser Brief folgt auf Louis Spohr an Dorette Spohr, 09.01.1822. Der Postweg dieses Briefs überschnitt sich mit den derzeit verschollenen Brief Dorette Spohr an Louis Spohr, 12.01.1822. Dorette Spohr beantwortete diesen Brief am 18.01.1822.

[1] Da der 14.01.1822 ein Montag war und wahrscheinlicher ist, dass Spohr sich in der Zahl als im Wochentag irrte, ist das Briefdatum mit Göthel auf den 13.01.1822 zu korrigieren.

[2] Vermutlich Theodor Amadeus Müller (vgl. Folker Göthel, in: Spohr, Briefwechsel mit seiner Frau, S. 90, Anm. 15).

[3] Wilhelm Schlick war in der Gothaer Hofkapelle nur als Aushilfe beschäftigt (vgl. Gisa Steguweit, Die deutsch-italienische Musikerfamilie Schlick-Strinasacchi und ihre Beziehung zum Herzoghaus Sachsen-Gotha-Altenburg von 1775 bis 1825 (= Schriftenreihe des Freundeskreises der Forschungsbibliothek Gotha e.V. 2), Gotha 2015, S. 115; Göthel, ebd., Anm. 17 identifiziert den Sohn mit einem bei Steguweit nicht bekannten Johann Gottfried Schlick).

[4] Wohl Johann Christian Wilhelm Bärwolf; Göthel, ebd., Anm. 19 gibt den Vornamen bei gleichen Lebensdaten mit Friedrich an.

[5] Vielleicht Auguste Christiane Friedrike Grosch, die 1817 verwitwte Frau des Gothater Oberkirchners Johann Friedrich August Grosch (vgl. „Todesanzeige”, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen 2 (1817), Sp. 2498).

[6] Kosename für Spohrs jüngste Tochter Therese.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.12.2016).