Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,32
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 63 (teilweise)

Herrn
Herrn Wilhelm Speyer
Wohlgeb.
Offenbach a/m

Dresden den 2ten Januar
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Herzlich geliebter Freund,

Ihre beyden Briefe mit der freundlichen Einladung habe ich richtig erhalten und ich würde auch gleich den ersten auf der Stelle beantwortet haben hätte ich nicht die Entscheidung meiner Angelegenheiten abwarten und Ihnen mittheilen wollen die sich immer von einem Posttage zum andern verzögerte. Nun endlich ist die Sache entschieden und ich beeile mich daher, Ihnen zu schreiben.
Ich stand mit Gotha und Cassel zu gleicher Zeit wegen eines Engagements in Unterhandlungen die sich mit Gotha aber in die Länge zogen.1 Nun habe ich mich für Cassel entschieden und bin dort vom 1sten Januar an auf Lebenszeit als Hofkapellmeister und Direktor der Oper mit 2000 Rth Gehalt und einem jährlichen Urlaub von 2 Monathen engagirt. Außerdem werden mir die Reisekosten dorthin vergütet. In einige Tagen reise ich von hier ab und denke Mitte des Monaths in Cassel einzutreffen. Meine Frau und Kinder bleiben noch 3 Monathe hier, damit der Gesang-Unterricht meiner Mädchen nicht gleich wieder unterbrochen wird. So schwer es uns auch fällt uns auf so lange Zeit zu trennen so bringen wir dieß Opfer unseren Kindern doch gern, da wir eine Aussicht haben, daß sie einmal etwas ausgezeichnetes leisten werden. Besonders hoffe ich viel von Emilie; sie hat, und bekommt noch immer mehr, eine große imposante Stimme und eine natürliche Geläufigkeit. Es macht mir jetzt schon unendliche Freude ihr Sachen einzustudiren und von ihr hoffe ich einmal meine Kompositionen zu dank gesungen zu hören. – Doch nun lassen Sie mich Ihnen für Ihre liebevolle Einladung herzlichst danken; doch auch in dem Fall, wenn aus beyden Engagements nichts geworden wäre hätte ich ihr diesen Winter nicht folgen können da ich theils meiner Frau schon halb und halb das Versprechen gegeben hatte, sie diesen Winter nicht zu verlassen, theils meine Gegenwart der Emilie bey ihrem Gesangstudium zu nöthig war. Von Cassel aus hoffe ich Sie aber nun bald einmal besuchen zu können.
Während den 2 Monathen unseres hiesigen Aufenthalts bin ich ziemlich fleißig gewesen und habe 2½ Quartetten2 komponirt. Die beyden ersten habe ich bereits gehört. Sie sind etwas kürzer, leichter und meiner Meinung nach auch besser wie die in Frankfurt geschriebenen3 und zu gleicher Zeit auch dankbarer für die erste Geige. In Cassel werde ich zuerst das 3te fertig machen und dann gleich eine neue große Oper4 zu schreiben anfangen, die ich mir jetzt hier dichten lasse. Das Sujet ist herrlich und ergreifend. – Meiner Zemire geht e[s] unglücklich! Sie ist zwar in München5 u[nd in] Wien6 gegeben worden; in letztem O[rt] aber so schlecht daß sie keinem Menschen hat gefallen können. Der junge Grund, der jetzt dort ist, macht mir eine schreckliche Beschreibung davon; er schreibt mir, daß er den Weigl und die Sänger am Abend der ersten Vorstellung hat verfluchen mögen,7 Die Oper würde ihn angeekelt haben, wenn er sie dort zum erstenmal gehört hätte. – Meine Frau und wir alle haben das neue Jahr auf eine kummervolle Weise angetreten, denn meine Schwiegermutter8 in Gotha ist plötzlich an einer Entzündung der Eingeweide am 26sten December gestorben. Meine arme Dorette, die sie bald wiederzusehen gefreut hatte, ist untröstlich. – Ich sehe nun mit nächstem einem Briefe von Ihnen in Cassel entgegen. – Guhr meinen Dank für seine Bereitwilligkeit mich in Frankf. zu unterstützen. – Die herzlichsten Grüße von uns allen an die lieben Ihrigen. Ihr treuer Freund
L. Spohr.

N.S. André wird Ihnen das Honorar für das Concert auszahlen. Verwahren Sie es gefälligst und schicken sie es mir dann zu seiner Zeit mit den Interessen.9



Dieser Brief ist die Antwort auf zwei verschollene Briefe von Speyer an Spohr. Speyers Antwortbrief ist ebenfalls verschollen.

[1] In den Lebenserinnerungen behauptet Spohr, dass Angebot aus Gotha sei erst gekommen, nachdem die Vertragsverhandlungen mit Kassel abgeschlossen waren (Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. v. Folker Göthel, Tutzing 1968, Bd. 2, S. 124f., Text mit fehlerhafter Paginierung auch online; ders., Louis Spohr’s Selbst-Biographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 150f.).

[2] Op. 58.

[3] Op. 45.

[4] Jessonda.

[5] Vgl. „München, Februar”, in: Morgenblatt für gebildete Leser 16 (1822), S. 228.

[6] Vgl. „Wien. Uebersicht des Monats December”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 24 (1822), Sp. 58-66, hier Sp. 59f.; „Tagebuch der Wiener-Bühnen. Jänner 1822”, in: Allgemeine Theaterzeitung und Unterhaltungsblatt 15 (1822), S. 34f., hier S. 35; Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode (1821), S. 73f. „Schauspiele. Kaiserl. Königl. Hoftheater nächst dem Kärntnerthore”, in: Sammler 14 (1822), S. 7f., hier S. 8; „Hoftheater nächst dem Kärntnerthor”, in: ebd., S. 48.

[7] Eduard Grunds Brief an Spohr ist derzeit verschollen

[8] Sophie Elisabeth Susanne Scheidler. – In seinen Lebenserinnerungen behauptet Spohr, er habe seine Schwiegermutter auf seiner Reise von Dresden nach Kassel noch besucht (Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 125, Text mit fehlerhafter Paginierung auch online; ders., Selbst-Biographie, Bd. 2, S. 152.

[9] Zinsen (vgl. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 8. Aufl., Bd. 5, Leipzig 1843, S. 571). 

Kommentar und Verschlagwortung, soweit nicht in den Anmerkungen anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (09.02.2016).

Dresden, 2. Januar 1822.
... Nun endlich ist die Sache entschieden und ich beeile mich daher, Ihnen zu schreiben. Ich stand mit Gotha und Cassel zu gleicher Zeit wegen eines Engagements in Unterhandlungen. Nun habe ich mich für Cassel entschieden und bin dort vom 1. Januar an auf Lebenszeit als Hofkapellmeister und Direktor der Oper mit 2000 Thaler Gehalt und einem jährlichen Urlaub von zwei Montaten engagiert. In einigen Tagen reise ich von hier ab und denke Mitte des Monats in Cassel einzutreten ...
In Cassel werde ich dann gleich eine neue große Oper zu schreiben anfangen, die ich mir jetzt hier dichten lasse. Das Sujet ist herrlich und ergreifend.