Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,202

Herrn
Dr. und Physicus Spohr
Wohlgeb
für Herrn Louis Spohr
Gandersheim
bei Göttingen


Offenbach am 28 Juli 1821.

Geliebter Freund!

Längst schon war es mir ein Bedürfniß mich wieder einmal mit Ihnen zu unterhalten, allein überhäufte Beschäftigungen ließen es nicht zu. Die Trennung mit H. Pensa und der Uebergang in ein anderes Verhältnis machten mir sehr viel zu thun; seit einigen Tagen erst bin ich ganz frei, und ich benutze diese Freiheit sogleich, um der Freundschaft den gerechten Tribut zu zollen.
Zuförderst sage ich Ihnen, daß Ihre Geld-Angelegenheit in vollkommener Ordnung ist; ich habe nämlich das Capital von f 7000. übernommen, und werde Ihnen davon die Zinßen zu 4 vom Hundert vom 1. Juli d. J. vergüten; außerdem kommen Ihnen noch die bewußten f 27.51. von den Pariser Schülern1 zu gute, welche ich Ihnen mit der ersten Zinßzahlung zuschicken werde. Nun sagen Sie mir umgehend, wohin ich am Ende des Jahres die Zinßen zu senden habe.
Sehr gespannt bin ich auf Ihre Nachrichten, in Bezug auf ein projectirtes Engagement oder in Hinsicht der vorzunehmenden Reisen. Gewiß ist es, daß Wien ein sehr wünschenswerther Aufenthalt für Sie sein müsse; wenn ich jedoch bedenke, wir sehr (nach allgemeinen Nachrichten zu urtheilen) der gute Geschmack allmählig von dort zu weichen scheint, wie man sich mit wahrer bachanalischer Frivolität der Metze Rossini ergibt, so bedünkt es mich, daß jener Aufenthalt für einen Künstler von Ueberzeugung und ächtem Gehalte, höchst zwielich(?) sein muß. – Auch möchte ich um keinen Preiß die Erziehung meiner Kinder, am wenigsten junger Mädchen in Wien fortgesetzt wissen, denn das Prinzip der Schlemmerey, welches dort gegenwärtig vorzuherrschen scheint, drängt sich in die jugendlichen Herzen wie süßes Gift, und umnebelt die besten Grund- und Vorsätze. Ueberhaupt scheint mir Wien das heutige Babel. – So wie der Mensch durch Prüfungen des Schicksals an innerem Gehalte gewinnt, und von der ernsten Seite des Lebens, die wahre Bedeutung desselben auffaßt, so geschiehet es ihm, daß der wiedergekehrte Glanz des Glückes, die theuren, wohlthätigen Erfahrungen bald vergessen macht, und ihn hinabziehet, als die bittere Entbehrung seiner thierischen Natur nicht zusagte, und diese nun ihr Recht auf Doppelgenuß geltend macht. – Der Mensch aber ist der Microcosmoß der Welt, und große Städte sind wiederum Hohlspiegel derselben. – Zu jener Zeit, als sich die Bedrängniß des Vaterlands in Wien centralisirte, erhob sich dort zum Gegensatz das ganze Capital geistigen Vermögens, und die ernste Zeit veranlaßte ernstes, würdiges Streben. Dies alles ist nun vorbei. Glück und Ueberfluß, lustiges Leben regirt dasselbst, und in dem tollen Genuße des Augenblicks verhaucht die Idee des Bessern. – Darum Rossini, der nichtswürdige Handel mit Staatspapieren (welches ein und dasselbe ist) und die Sucht beständig in geräuschvollen tobenden Zerstörungen zu leben. Ohnehin hat Wien, in der Lebensart der gebildeten Welt nichts wie nationales, sondern alles modellirt sich nach London u. Paris; um so mehr muß jene Afterfrivolität bedeutungsloß und fade erscheinen. – Indessen es wird eine Zeit kommen, wo dennoch die Wahrheit strahlend durch die Nebel bricht; alsdann wird ein entsetzlicher Katzenjammer der tollen Faschingszeit folgen, und alle werden rufen: Pater precari.
In Ihrem letzten SchreibenE sagen Sie mir, daß Sie keine sonderliche Lust mehr hätten, fürs Theater zu schreiben; gerade das Gegentheil rathe ich Ihnen denn die Erfahrung, die wir hier gemacht, spricht dafür. – Seit der letzten Messe wurde Z. u. Azor 4 oder 5 mal gegeben, und mit stets wachsendem Beyfalle.2 – Das Haus ist jedesmal gedrückt voll, auch ist über den W[er]th der Musik nur eine Stimme. Guhr gibt sich wirklich wa[hre] Mühe, und das Repertoire hat sich auffallend verbessert. Gegenwärthig werden 3 neue Opern zur Messe einstudirt: Faust, Cantemire und Les Voitures verries von Boldieu. – Den Faust singt Pillwitz, Mephisto Dobler, Kunigunde die Lange jetzige Brauer3 pp. die Bamberger singt die Zemire recht artig, und muß die „Rose” immer wiederholen.4 – Wenn es Ihre Muße zuläßt, so schreiben Sie doch ja wieder eine neue Oper, denn ich prophezeie es, daß eine Zeit kommt, wo diese Werke ein großes Glück machen werden. Indessen müssen Sie sorgfältig sein, in der Wahl der Sujets.
Ihr wohlgetroffenes Bild5 prangt in einem goldnen Rahmen und macht mir unendlich viel Vergnügen; ich liebe sehr die magische Einwirkung des Porträts auf das Gemüth, und gewiß ist es, daß mich jenes Bild, in musikalischer Hinsicht, noch oft zum Fleiß u. zur Ausdauer anspornen wird. –
Wir leben hier sehr glücklich u. zufrieden. Kindisch würde ich mich freuen, wenn Sie und Ihre Frau einige Zeit unter uns leben könnten. – Carl Blum aus Berlin hat für den Großherzog v. Hessen eine Oper6 geschrieben und als Honorar 100 Louisd’ors erhalten. Schreiben Sie dem alten Herrn durch mich; wenn Sie mit ihm einig werden, so wohnen Sie während der Composition der Oper in Offenbach. – Der Gedanke ist gewiß nicht übel!
Grüßen Sie Ihre Frau u. Kinder von uns Allen auf das Herzlichste und erfreuen Sie mich so bald wie möglich mit einem langen Briefe. Von ganzem Herzen der Ihrige

Wm. Speyer.



Dieser Brief beantwortet einen verschollenen Brief von Spohr an Speyer. Spohr beantwortete diesen Brief am 26.08.1821.

[1] Spohrs Pariser Schüler sind bislang nicht ermittelt.

[2] Vgl. [Wilhelm Speyer], „Frankfurt am Main, im April”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 23 (1821), Sp. 360-368, hier Sp. 360

[3] Nach dem Tod des Tenors M. Brauer heiratete sie 1829 den Schauspieler Philipp Jakob Düringer und wird deshalb lexikalisch als Caroline Düringer-Lange geführt.

[4] In seinem Bericht zur Neueinstudierung von Zemire und Azor bemerkt Speyer allerdings, Bamberger erreiche als Zemire nicht ihre Vorgängerin Friedel (Speyer, „Frankfurt am Main, im April”, Sp. 360). 

[5] Wohl die Lithographie nach dem Porträt von Adam Grünbaum, welches auch in den Briefen Speyer an Spohr, 04.07.1820 sowie Spohr an Speyer, 26.09.1820 und 10.06.1821 erwähnt ist (vgl. Herfried Homburg, „Bildnisse Louis Spohrs. Eine vorläufige Bestandsaufnahme”, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Hartmut Becker und Rainer Krempien (= Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Ausstellungskatalog 22), Kassel 1984, S. 209-230, hier S. 212f.).

[6] Noch nicht ermittelt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.02.2016).