Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,18

Druck 1: „Briefe von L. Spohr”, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 8 (1860), S. 73-77 und 93f., hier S. 93f.
Druck 2: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 55ff. (teilweise)

Herrn
Herrn Wilhelm Speyer
neue Mainzergasse
Frankfurt a/m


London den 18ten Juni 20.

Geliebter Freund,


Ihren letzten Brief (ohne Datum) habe ich heute vor acht Tagen richtig erhalten; ich danke Ihnen herzlich für alle darin enthaltenen interessante Nachrichten. Die Erzählung von Sand's Tod hat mich sehr gerührt. Ich hoffte immer noch, die heidelberger Studenten würden Mittel finden, ihn zu befreien, und seine Flucht nach einem anderen Welttheile begünstigen. – Ohne die That zu billigen, muss man doch seinen Heroismus bewundern!
Ihrer Erlaubnis gemäß habe ich an Herrn Obicini 400 £ St.1 ausgezahlt und ihn gebeten, es Ihnen sogleich zu überweisen. Meiner Rechnung nach werden Sie nun ohngefähl 7000 fl. Rg. von mir haben; ich bitte Sie mir im nächsten Br. zu schreiben, in wie fern meine Rechnung richtig ist. – Diese Summe nämlich 400 £ haben wir ohngefähr nach Abzug aller Kosten hier erübrigt, dann die 100 Guineen, die ich mir hier hatte auszahlen lassen und noch 50 andere, als Ersatz der Reisekosten von Frankf. hieher sind mir außerdem noch übrig geblieben. Sie sehen also, dass wir mit dem Ertrage unseres Aufenthaltes sehr zufrieden sein können, indem wir mehr gewonnen haben, als irgend ein fremder Künstler seit Haydn. Mehr als dieses noch hat mich der Beifall gefreut, den alle unsere öffentlichen und Privat-Productionen erhielten, und der besonders bei unserem eigenen Concerte so stürmisch war, wie man ihn in London von einem englischen Publicum noch gar nicht will gesehen haben. Ich hatte aber auch keine Kosten gespart, um dieses Concert vor anderen auszuzeichnen; denn während bei anderen Benefiz-Concerten gewöhnlich nur ein kleines, zusammengesuchtes Orchester ist, das ohne Probe schon in hundert anderen Concerten abgelagerte Sachen auf gutes Glück herunterspielt, hatte ich ein aus den besten Künstlern Londons zusammengesetztes Orchester von 20 Geigen, 6 Violoncellen, 3 Contrabässen u.s.w. Was dieses gekostet, werden Sie ohngefähr berechnen können, wenn ich Ihnen sage, dass ich sie mit Ausnahme von wenigen alle bezahlt habe, und dass die besseren sich für Probe und Vorstellung 4-5 Guineen bezahlen lassen. So habe ich auch einer der Sängerinnen2 für eine einzige Arie 15 Guineen bezahlen müssen. Von eigenen Compositionen gab ich in diesem Concerte: 1.) die neue Sinfonie. 2.) die Sonate für Harfe und Violine, die wir in Frankfurt gespielt haben (der 2te Satz abgekürzt und abgeändert)3 3.) neue Violin-Variationen über irländische National-Melodien. 4.) mein Nonetto; 5.) das Rondo vom 7ten Concert und 6.) die Ouvertüre aus Alruna. Ausserdem wurde vier Mal gesungen, und Ries spielte ein Sextett von seiner Composition. (sehr vorzüglich!) Den lautesten Beifall erhielten die Sonate und die neuen Variationen. – Morgen werde ich das letzte der Ph. Concerte dirigiren. Man hat mich gebeten, das Nonett zu wiederholen; ausserdem wird meine gestochene Sinfonie gemacht werden. Seit ich Ihnen schrieb, haben wir manches interessante und merkwürdige in und um London gesehen; in musicalischer Hinsicht aber wenig gutes gehört. Es ist hier in allen Concerten eine ungeheure Monotonie, immer dieselben Sinfonieen, dieselben faden oder veralteten Arien, dasselbe langweilige Claviergetrommel; am Ende der Saison ist man so abgespannt, dass man gern Geld zugäbe, um nur kein Concert besuchen zu müssen. Dasselbe fürchterliche Einerlei herrscht auch in der Lebensweise der Engländer; in jedem Hause dieselben Meublen, bei jedem Mittagessen dieselben Schüsseln; in jeder Gesellschaft dieselben langweiligen, nichtssagenden Gesichter, die man schon 100 mal gesehen zu haben glaubt, wenn man ihnen auch zum ersten Male begegnet! Die vornehmen Engländer sind wie die Chinesen Maschinen, die nur durch die Etiquette in Bewegung gesetzt werden. – Ich kann mir jetzt recht gut die Entstehung des Spleens erklären, daran sind weder die Nebel noch das schwere Bier schuld: die Langeweile ist's, welche die Menschen zum Selbstmorde bringt!
Nächsten Donnerstag reisen wir ab. Ich wäre gern no[ch] nach Paris gegangen; allein die Sehnsucht meiner Frau [nach] den Kindern ist so groß, daß sie sich auch nicht einmal mehr 14 Tage will zurückhalten lassen. Wir gehen über Brüssel, Aachen, Köln und Paderborn nach Gandersheim. Finden wir's in Aachen brillant, so geben wir im Fluge dort noch ein Concert. – In Gandersheim hoffe ich bei unserer Ankunft einen Brief von Ihnen vorzufinden.
Ihre ganze Familie, Herr u M. Pensa sowie allen unseren Freunden die herzlichsten Grüße. Leben Sie wohl. Mit ganzer Seele

der Ihrige Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen verschollenen Brief von Speyer an Spohr. Speyer antwortete am 04.07.1820.

[1] Vermutlich Sterling.

[2] Eliza Salmon (vgl. Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. v. Folker Göthel, Tutzing 1968, Bd. 2, S. 82, Text mit falscher Paginierung auch online; ders., Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 97f.). 

[3] Da Spohrs in dem erwähnten Frankfurter Konzert eine „neue Sonate” spielten ([Wilhelm Speyer], „Frankfurt am Mayn, im März”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 22 (1820), Sp. 269-272, hier Sp. 269f.) muss es sich um WoO 36 handeln (vgl. Folker Göthel, Thematisch-bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 298).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.01.2016).

London, den 18. Juni 1820
Ihren letzten Brief habe ich heute vor acht Tagen richtig erhalten; ich danke Ihnen herzlich für alle darin enthaltenen interessante Nachrichten. Die Erzählung von Sand's Tod hat mich sehr gerührt. ich hoffte immer noch, die heidelberger Studenten würden Mittel finden, ihn zu befreien, und seine Flucht nach einem anderen Welttheile begünstigen. – Ohne die That zu billigen, muss man doch seinen Heroismus bewundern. (Hier folgen einige ökonomische Angelegenheiten.) – –
Sie sehen also, dass wir mit dem Ertrage unseres Aufenthaltes sehr zufrieden sein können, indem wir mehr gewonnen haben, als irgend ein fremder Künstler seit Haydn. Mehr als dieses noch hat mich der Beifall gefreut, den alle unsere öffentlichen und Privat-Productionen erhielten, und der besonders bei unserem eigenen Concerte so stürmisch war, wie man ihn in London von einem englischen Publicum noch gar nicht will gesehen haben. Ich hatte aber auch keine Kosten gespart, um dieses Concert vor anderen auszuzeichnen; denn während bei anderen Benefiz-Concerten gewöhnlich nur ein kleines, zusammengesuchtes Orchester ist, das ohne Probe schon in hundert anderen Concerten abgelagerte Sachen auf gutes Glück herunterspielt, hatte ich ein aus den besten Künstlern Londons zusammengesetztes Orchester von 20 Geigen, 6 Violoncellen, 3 Contrabässen u. s. w. Was dieses gekostet, werden Sie ungefähr berechnen können, wenn ich Ihnen sage, dass ich sie mit Ausnahme von wenigen alle bezahlt habe, und dass die besseren sich für Probe und Vorstellung 4-5 Guineen bezahlen lassen. So habe ich auch einer der Sängerinnen für eine einzige Arie 15 Guineen bezahlen müssen. Von eigenen Compositionen gab ich in diesem Concerte: 1) die neue Sinfonie; 2) die Sonate für Harfe und Violine, die wir in Frankfurt gespielt haben (der zweite Satz abgekürzt und abgeändert); 3) neue Violin-Variationen über irländische National-Melodieen; 4) mein Nonetto; 5) das Rondo vom siebenten Concerte und 6) die Ouvertüre aus Alruna. Ausserdem wurde vier Mal gesungen, und Ries spielte ein Sextett von seiner Composition (sehr vorzüglich). Den lautesten Beifall erhielten die Sonate und die neuen Variationen. Morgen werde ich das letzte der philharmonischen Concertc dirigiren. Man hat mich gebeten, das Nonett zu wiederholen; ausserdem wird meine gestochene Sinfonie gemacht werden. Seit ich Ihnen schrieb, haben wir manches Interessante in und um London gesehen, in musicalischer Hinsicht aber wenig gehört. Es ist hier in allen Concerten eine ungeheure Monotonie, immer dieselben Sinfonieen, dieselben faden oder veralteten Arien, dasselbe langweilige Clavier-Getrommel; am Ende der Saison ist man so abgespannt, dass man gern Geld zugäbe, um nur kein Concert besuchen zu müssen. Dasselbe fürchterliche Einerlei herrscht auch in der Lebensweise der Engländer; in jedem Hause dieselben Möbel, bei jedem Mittagessen dieselben Schüsseln; in jeder Gesellschaft dieselben langweiligen, nichtssagenden Gesichter, die man schon hundert Mal gesehen zu haben glaubt, wenn man ihnen auch zum ersten Male begegnet. Die vornehmen Engländer sind wie die Chinesen Maschinen, die nur durch die Etiquette in Bewegung gesetzt werden. Ich kann mir jetzt recht gut die Entstehung des Spleens erklären, daran sind weder die Nebel noch das schwere Bier schuld: die Langeweile ist's, welche die Menschen zum Selbstmorde bringt.
Nächsten Donnerstag reisen wir ab. Wir gehen über Brüssel, Aachen, Köln und Paderborn nach Gandersheim. Finden wir's in Aachen brillant, so geben wir im Fluge dort noch ein Concert. In Gandersheim hoffe ich bei unserer Ankunft einen Brief von Ihnen vorzufinden.
Mit ganzer Seele der Ihrige,
Louis Spohr.

London, 18. Juni 1820.

Geliebter Freund!

Ihren letzten Brief habe ich heute vor acht Tagen richtig erhalten; ich danke Ihnen herzlich für alle darin enthaltenen interessante Nachrichten. Die Erzählung von Sands Tod hat mich sehr gerührt; ich hoffte immer noch, die Heidelberger Studenten würden Mittel finden, ihn zu befreien, und seine Flucht nach einem anderen Weltteil begünstigen. Ohne die That zu billigen, muss man doch seinen Heroismus bewundern! – ...
Sie sehen also, dass wir mit dem Ertrage unseres Aufenthaltes sehr zufrieden sein können, indem wir mehr gewonnen haben als irgend ein fremder Künstler seit Haydn. Mehr als dieses noch hat mich der Beifall gefreut, den alle unsere öffentlichen und Privatproduktionen erhielten, und der besonders bei unserem eigenen Concerte so stürmisch war, wie man ihn in London von einem englischen Publikum noch gar nicht will gehört haben. Ich hatte aber auch keine Kosten gespart, um dieses Concert vor anderen auszuzeichnen; denn während bei anderen Berufskonzerten gewöhnlich nur ein kleines, zusammengesuchtes Orchester ist, das ohne Probe schon hundertmal in andern Konzerten abgeleierte Sachen auf gutes Glück herunterspielt, hatte ich ein aus den besten Künstlern Londons zusammengesetztes Orchester von 20 Geigen, 6 Violoncellen, 3 Konterbässen u.s.w. Was dieses gekostet, werden Sie ungefähr berechnen können, wenn ich Ihnen sage, dass die besseren sich für Probe und Vorstellung vier bis fünf Guineen bezahlen lassen. So habe ich auch einer der Sängerinnen für eine einzige Arie 15 Guineen bezahlen müssen. – Von eigenen Compositionen gab ich in diesem Concerte: 1. Die neue Sinfonie. 2.) Die Sonate für Harfe und Violine. 3.) Neue Violinvariationen über Irländische Nationalmelodien. 4.) mein Nonett. 5.) das Rondo meines siebenten Violinkonzerts und 6.) die Ouvertüre zu ,Alruna’. Ausserdem wurde viermal gesungen, und Ries spielte ein Sextett von seiner Composition. (sehr vorzüglich!). Den lautesten Beifall erhielten die Sonate und die neuen Variationen. – Morgen werde ich das letzte der Phil. Konzerte dirigieren. Man hat mich gebeten, das Nonett zu wiederholen; ausserdem wird meine erste Sinfonie gemacht werden.
Seit ich Ihnen schrieb, haben wir manches Interessante und Merkwüdige in und um London gesehen; in musicalischer Hinsicht aber wenig gutes gehört. Es ist hier in all den Konzerten eine ungeheure Monotonie, immer dieselben Sinfonieen, dieselben faden oder veralteten Arien, dasselbe langweilige Klaviergetrommel. Am Ende der Saison ist man so abgespannt, daß man gern Geld zugäbe, um nur kein Konzert besuchen zu müssen. Dasselbe fürchterliche Einerlei herrscht auch in der Lebensweise der Engländer: in jedem Hause dieselben Möbel, bei jedem Mittagessen dieselben Schüsseln, in jeder Gesellschaft dieselben langweiligen, nichtssagenden Gesichter, die man schon hundertmal gesehen zu haben glaubt, wenn man ihnen auch zum erstenmal begegnet! Die vornehmen Engländer sind wie die Chinesenmaschinen, die nur durch die Etikette in Bewegung gesetzt werden. – Ich kann mir jetzt recht gut die Entstehung des Spleens erklären, daran sind weder die Nebel noch das schwere Bier schuld; die Langweile ist's, die die Menschen zum Selbstmord treibt!
Nächsten Donnerstag reisen wir ab. Ich wäre gern noch nach Paris gegangen, allein die Sehnsucht meiner Frau nach den Kindern ist so groß, daß sie sich nicht einmal auch nur vierzehn Tage will zurückhalten lassen ...
Ihrer ganzen Familie die herzlichsten Grüße. Leben Sie wohl! Mit ganzer Seele, der Ihrige

Louis Spohr.