Autograf: früher im Privatbesitz, heute verschollen
Vorlage: Abschrift von Herfried Homburg († 2008)
Druck: Wolfgang Arbogast, „Louis Spohr in Kleve. Die Freundschaft des berühmten Musikers mit dem Notar Friedrich Thomae”, in: Niederrhein 48.2 (1981), S. 86-90, hier S. 89
Inhaltsangabe: Der Autographensammler (= Katalog Stargardt 501), Marburg 1952, S. 25

Sr. Wohlge.
Dem Herrn Notar
Thomae
in Cleve
 
 
Frankfurt den 4ten
May 1819
 
Herzlich geliebter Freund,
 
Es ist nun entschieden, daß ich in 4 Monathen ganz von hier abgehe. Vor einigen Tagen habe ich geradezu aufgekündigt1, da ich im voraus wußte, daß man mir meine Bedingungen nicht bewilligen würde. Mein Abgang ist jezt das Gespräch der Stadt und die Direction, die ihn veranlaßt, muß manches bittere hören. In einem hiesigen Journal „Die Waage” heißt es unter anderem: daß wir ihn verlieren ist das schlimmste nicht, das schlimmste ist, daß er nichts an uns verliert. Es muß ein Fluch auf unserer Stadt ruhen, daß sie gar nichts großes und ausgezeichnetes in ihren Mauern dulden kann. Wir machen uns wieder vor dem Auslande lächerlich, daß wir Spohr gehen lassen p.p.2 – Meine früher eingereichten Bedingungen waren 1.) lebenslängliches Engagement und 2.) uneingeschränkte Leitung des artistischen Theils der Bühnenverwaltung. Das erste fand den meisten Widerspruch weil die meisten Actionäre in einigen Jahren, wo ihr Contract mit der Stadt endigt, die ganze Entreprise aufzugeben wünschen.
Mein Plan ist nun, das Engagement in London welches mir vorigen Winter von neuem mit noch vortheilhafteren Bedingungen angetragen wurde3, für nächsten Winter anzunehmen. Da dieses aber erst im Monath Februar anfängt, so gewinne ich vorher noch Zeit zu einer Reise nach Berlin, Dresden und Leipzig, in welchen Städten ich als Künstler seit 10 Jahren nicht aufgetreten bin. Im December und Januar denke ich in den Brabanter Städten, in Brüssel, Antwerpen, Gent und Lille Concerte zu geben und mich dann im Anfang des Februar in Calais einzuschiffen.
Da dieses nun der letzte Sommer seyn wird, den wir hier verleben, so rechne ich mit Gewißheit darauf, Euch im Laufe desselben hier zu sehen. Diese Freude dürft Ihr uns nicht verderben. Wer weis, wie lange es sonst dauern könnte, bis wir uns einmal wiedersehn. Bis in die ersten Tage des September bleiben wir gewiß hier.
Vielen Kummer verursacht uns, daß wir die Kinder4 zurücklassen müssen und meine arme Dorette vergießt schon täglich Thränen wenn sie daran denkt. Wir werden sie zu meinen Ältern5 bringen, wo sie vortrefflich aufgehoben seyn werden. Leider werden die beyden ältesten aber dort gar keinen, oder doch nur sehr schlechten Unterricht in der Musik bekommen, was mir sehr viele Sorgen macht, da ich es mir [stets] als mein schönstes Glück gedacht habe, d[ie] Mädchen zu ein paar ausgezeichneten Künstlerinnen zu bilden.6 Ich würde sie deswegen lieber hier in Pension lassen, wenn nicht wieder in anderer Hinsicht so viel zu fürchten wäre. Doch alles das läßt sich noch reiflicher überlegen.
Die herzlichsten Grüße von Doretten und den Kindern. Erstere wird nächstens an Deine Frau schreiben.
Lebe wohl geliebter Freund und behalte lieb
 
Deinen Louis Spohr
 
NS. So eben fällt mir ein, daß ich Dir noch nicht einmal für das herrliche Geburtstagsgeschenk gedankt habe. Du mußt es damit entschuldigen, daß ich jezt den Kopf so voll habe. So geschehe es denn jezt von ganzer Seele. –



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Thomae an Spohr, 13.10.1817. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Thomae an Spohr, 23.06.1822.
Arbogast zufolge befindet sich das Autograf im Spohr Museum; den Unterlagen nach war es aber im Besitz eines Mitglieds der Internationalen Louis Spohr Gesellschaft und ist heute verschollen. Vorlage für den Druck war vermutlich bereits das hier wiedergegebene Transkript von Herfried Homburg.
 
[1] Vgl. Spohr an das Stadtheater in Frankfurt am Main, 01.05.1819.
 
[2] Waage 1 (1819), S. 287f.
 
[3] Vgl. Ferdinand Ries an Spohr, 21.10.1817.
 
[4] Emilie, später verheiratete Zahn, Ida, später verheiratete Wolff, und Therese.
 
[5] Ernestine und Carl Heinrich Spohr in Gandersheim.
 
[6] Zumindest den Klavierunterricht bewertete Spohr in Gandersheim eingetroffen positiver (vgl. Spohr an Wilhelm Speyer, 09.09.1819).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (12.10.2016).