Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochwohlgeborner,
Hochverehrter Herr Generalmusikdirektor

Obwohl ich nicht hoffen wage, daß dieselben sich meienr als denselben erinnern, der die Ehre hatte, Ihnen vor 2 Jahren in London bey Herrn Wessel vorgestellt zu werden1, erlaube ich mir nichtsdestoweniger Ihren entscheidenden Richterspruch in einer musikalischen Ehrenangelegenheit anzurufen, den Sie hochwohlgeborner, hochverehrter Herr General Musikdirector, mir vielleicht nicht verweigern werden.
Ich habe hier, wo ich eine relativ sehr günstige Stellung gefunden, in Mußestunden einige Kritiken über hiesige Opernvorstellungen geschrieben, deren zwey schärfste ich im gedruckten Auszuge zu unterbreiten mir erlaube. Es erschien nun vor etwa 14 Tagen die unter a bezeichnete Aufforderung des Herrn Capellmeister Hagen2, die ich unter b beantwortete3. Darauf veröffentlichte der obengenannte Herr eine Erklärung4, die ich nicht beylege, weil ich Hagen als Ehrenmann achte, und nicht glauben kann, daß Invectiven unmittelbar aus seinem Kopfe und aus seiner Feder fließen. Er hatte jedoch hiebey einige Zeugnisse über seine Befähigung veröffentlicht: das erste5 von HochIhnen ausgestellt, worin Sie auf die auf die vor 8 Jahren in Bremen gehörte Vorstellung des „Stradella“ hinweisen6; die andern sämtlich aus Hanover, wo H. Capellm. Hagen zur Zeit des bekannten vielbesprochenen Zerwürfnisses zwischen H. Marschner u dem H. Grafen Platen einige Wochen als Stellvertreter des Ersteren fungirte. Ich mußte nun einerseits unter a die Erklärung abgeben, und wage nun die Bitte an Sie, Hochwohlgeboren Herr Generalmusikdirektor, gütigst mit einem trocknen Ja oder Nein einer ergebenen Frage beehren zu wollen: Habe ich ein Recht gehabt, die in meiner b-Erklärung angeführten Thatsachen zu rügen?
Daß ich hiebey von keiner persönlichen Absicht geleitet bin, erhellt aus dem in meiner letzten Erklärung gegebenen Citate – meiner Meinung über H. Capellmeister Hagen – von selbst.
Hochwohlgeborner hochverehrtester H. Generalmusikdirektor!
Eben Sie, der dem H. Kapellmeister H. ein so ehrenvolles Zeugniß ausgestellt haben, werden mir gütigst zugestehen, daß auch ein guter Dirigent Fehler begehen kann, und daß es zwischen ihm und einem Musiker, der schon bey seiner Stellung kein anderes Interesse zugemuthet werden kann, als das alleinige für die Kunst, nur einer Verkündigung bedarf, um Mißfälligkeiten und öffentliche Fehde zu vermeiden. Aber dieß ist leider nicht der Fall in der vorliegenden Angelegenheit; man hat mich der Gehässigkeit, der Intrigen angeklagt, obwohl meine Carriere hier Jedermann bekannt ist; daß ich angefangen habe, für fünf Silbergrosch. Lektionen zu geben, Niemanden den Hof gemacht und mich mit Gottes Hülfe zu einem ziemlich bedeutenden Einkommen emporgekämpft habe.
Hochwohlgeborner Herr Generalmusikdirektor!
Bevor ich es wagte, Sie zu stören wollte ich erst durch das Urtheil von Repräsentanten versc-hiedener Richtungen den Muth stärken, mich an Sie zu wenden; ich habe auch bereits von den Herrn Lachner (in Mannheim) u. Liszt die entschiedenst zu meinen Gunsten lautende Erklärungen in Händen, und bin derselben von Seiten der H. Lindpaintner u. A. fast versichert. Ich gebe HochIhnen jedoch mein Ehrenwort, daß ich von keiner derselben Gebrauch mache werde, bevor ich H. Kapellm. Hagen aufgefordert haben werde, einfach mich7 jeder persönlichen Absicht fernestehend anzukennen, wogegen ich gerne mein Bedauern, ihn unwillentlich gekränkt zu haben, aussprechen will.
Erlauben HochSie mir zu hoffen, daß Sie meine Störung gütigst entschuldigend, mich einem Worte Ihrer Hand beehren, und die Versicherung der höchsten Achtung und Verehrung genehmigen werden, mit der ich bin

Hochwohlgeborner Herr Generalmusikdirektor
Ihr ergebenster
Heinrich Ehrlich
kön. hannov. Hofpianist
Langgasse, zur Krone

Wiesbaden
8t May
1855.



[1] Marianne Spohr erwähnt Ehrlich anlässlich Ihrer Beschreibung des Diners bei Christian Rudolph Wessel nicht ausdrücklich (Tagebucheintrag 05.07.1853).

[2] Nicht ermittelt.

[3] Nicht ermittelt.

[4] Nicht ermittelt.

[5] Nicht ermittelt.

[6] Vgl. „Im Begriff ins Theater zu gehen […] Das Haus schön gebaut, geräumig u elegant, die Oper „Stradella“ von Floto nur mittelmäßig interessant […] Spohr wurde von allen Seiten erkannt, aufgesucht u angeredet; besonders wollten Dr. Köpken u Kapellm. Hagen noch nicht von dem Wunsch ablassen, daß er Mittwoch die Jessonda dirigierte […]“ (Marianne Spohr, Tagebucheintrag 30.06.1845).

[7] Hier gestrichen: „von“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (22.05.2023).