Autograf: Stadtarchiv Hannover (D-HVsta), Sign. Autogr. Culemann Nr. 2127
Druck: Richard Tronnier, Von Musik und Musikern, Münster 1930, S. 92 (teilweise)

Sr. Wohlgeb
Dem Herrn Doktor Lichtenthal
(in der Musikhandlung von Herrn
Artaria vis a vis vom Theater
della Scala zu erfragen.)
in
Mailand.


Frankfurt a/m
den 28sten May 1818.

Geliebter Freund,

Ich nehme mir die Freiheit Ihnen den Überbringer dieses, Herrn Speier aus Offenbach, der theils in Geschäften, theils zum Vergnügen Italien bereisen wird, als einen sehr geliebten Freund auf das angelegentlichste zu empfehlen. Er ist Kenner und ausgezeichneter Dilettant der Tonkunst und ein eben so großer Verehrer von Mozart wie Sie und ich. Führen Sie ihn daher doch ja allenthalben hin, wo er einen Kunstgenuß haben oder vielmehr die Überzeugung gewinnen kann, daß es deren für einen Deutschen in Italien in neuerer Zeit nicht viele geben kann. Haben Sie doch ja die Güte, ihn mit den ausgezeichneten Künstlern Maylands bekannt zu machen und bey der Gelegenheit auch mich diesen wieder zu gütigem Andenken zurückzurufen.
Was Sie von meiner jetzigen Lage und meinem Treiben als Künstler zu wissen wünschen werden, wird Ihnen mein Freund mündlich erzählen. - Ihre Berichte über Italien lese ich jezt noch mit erhöhtem Interesse1, seit ich selbst dort war. Recht neugierig sind wir alle von Ihnen etwas genügendes über den Werth oder Unwerth der Morlachi’schen Arbeiten in Neapel und Mailand zu erfahren.2 Man kann es in Deutschland gar nicht begreifen, wie die Kompositionen eines Morlachi in Italien so große Sensation machen können und folgert eben nichts schmeichelhaftes3 für den Geschmack der Italiäner daraus! Freylich! was mag man bey Ihnen denken, daß der süßliche fade Tankred in Deutschland so gefällt?!4 Aber glauben Sie mir, es ist auch nur der musikalische Pöbel, vornehmer und geringer, der ihn so erhebt und die Periode der Übersättigung an diesen trivialen Süßigkeiten ist bereits eingetreten, und man sehnt sich wieder nach etwas gehaltreichem.
Leben Sie wohl. Herzliche Grüße an die Herren Rolla, Vater5 und Sohn6 und alle übrigen dortigen Bekannte.
Mit unveränderter Freundschaft

der Ihrige
Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Lichtenthal, Peter
Erwähnte Personen: Morlacchi, Francesco
Mozart, Wolfgang Amadeus
Rolla, Alessandro
Rolla, Antonio
Speyer, Wilhelm
Erwähnte Kompositionen: Rossini, Gioachino : Tancredi
Erwähnte Orte: Mailand
Neapel
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1818052802

Spohr



[1] Lichtenthal war der Mailänder Korrespondenz der Allgemeinen musikalischen Zeitung (vgl. [Peter Lichtenthal], „Mailand, den 24sten October“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 34 (1832), Sp. 785-792, hier Sp. 785; Ole Hass, Allgemeine musikalische Zeitung 1798-1848, Baltimore 2009, S. xlix); diesem Brief zufolge berichtete er auch aus Neapel.

[2] Offensichtlich kannte Spohr bereits Lichtenthals Lästereien über Morlacchi, die im Februar erschienen waren ([Peter Lichtenthal], „Vermischte Nachrichten. Mayland“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 20 (1818), Sp. 89-96, hier Sp. 89ff.). Im April konnte Lichtenthal noch nicht aus erster Hand über Morlacchis Opern berichten (ders., „Mayland“, in: ebd., Sp. 285-292, hier Sp. 287). „Neapel, den 3ten Apr.“, in: ebd., Sp. 473f. stammt offensichtlich von einem anderen Korrespondenten. Von Lichtenthal könnte stammen: „Uebersicht der Frühlingsopern in Italien“, in: ebd., Sp. 487-496, hier Sp. 494, wo Morlacchi jedoch nicht bewertet wird.

[3] Hier ein Wort gestrichen.

[4] Vgl. „Berlin. Uebersicht des Januar“, in: ebd., Sp. 137f., hier Sp. 137; „Wien. Uebersicht des Monats März“, in: ebd., Sp. 292-296, hier Sp. 292f.; „Mannheim“, in: ebd., Sp. 377-385, hier Sp. 384f.

[5] Alessandro Rolla.

[6] Antonio Rolla.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (06.03.2017).