Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 136-139
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff

Cassel den 6. October 1843.
 
Geliebter Freund,
 
[...] Von England noch einiges nachträglich, wovon die Zeitungen nichts gemeldet haben. Das Extraconcert der Ph[ilharmonischen] Gesellschaft, was ich auf den Wunsch der Königin, in Gemeinschaft mit dem Prinzen Albert arrangiren muste, enthielt zwei Kompositionen, die ich nicht gewählt haben würde, wenn Pr. Alb. sie nicht durchaus verlangt hätte, die Ouverture zum Freischütz und der letzte Satz der 9ten Sinfonie von Beethoven. Auch bey meinen eignen Sachen hatte ich keine freie Wahl, da die Königin Gesangsachen aus Jessonda verlangte und der Prinz die Ouverture zu Macbeth, die ich völlig vergessen hatte. Alles Uebrige war aber sehr nach meinem Geschmack: Die Ouverture zur Fingalshöhle von Mendelssohn1, Arie und Chor aus Idomeneo von Mozart, die D-dur Sinfonie von diesem und ein großer Chor mit Fuge aus dem Paulus. Ich dirigirte sämtliche Kompositionen mit Ausnahme der ersten Ouverture, die ich einem andern übertragen muste, weil ich mir den Arm vor meinem Spiel nicht ermüden durfte. Ich spielte das Mal mein 1stes Concertino; im letzten Ph. Concert hatte ich das 2te gespielt. Sämtliche Sachen, die das Orchester schon oft gespielt hatte, gingen vortrefflich. Die größeste Sensation machte aber die Ouverture des Freischütz. Diese war bisher etwas pomadig und im strengen Takt executirt worden, - ich nahm sie, wie Sie es von unserm Theater aus kennen, bald schnell, bald langsam und das Orchester folgte vortrefflich. Dies imponirte so, daß am andern Morgen alle Zeitungen davon voll waren.2
[…] Die Königin ließ mich in der Pause rufen und sagte mir viel freundliches über Spiel, Komposition und Führung des Orchesters. Auch mit dem König von Belgien der bey ihr war, sprach ich viel über Musik und fand, daß er für einen König recht verständig urtheilte.3
In der Zwischenzeit, wo die 2te Aufführung des Oratoriums in Exeter Hall vorbereitet wurde, machten wir eine Reise in's Land bis nach Wales, auf welcher wir mit Hülfe der vielen Eisenbahnen in der kurzen Zeit von 8 Tagen, unendlich viel schönes und merkwürdiges gesehen haben.4 Zurückgekehrt dirigirte ich dann noch den Abend vor unserer Abreise zum 2ten Mal den „Fall Babylons und war im höchsten Grad erstaunt, wie vortrefflich die Chöre in 8 Abenden von dieser Sacred-Harmonic-Gesellschaft einstudirt worden waren. Zum ersten Mal habe ich die Chöre mit allen Nuancen von p. und f. gehört und das „lobsinget" des Schlußchors kräftig und deutlich. Auch der Sologesang war vortrefflich, besonders Staudigel als Cyrus. Die Massen waren durch die große Orgel unterstützt, wahrhaft überwältigend und das Ganze dieser Aufführung, so wie der Enthusiasmus des aus 3000 Zuhörern bestehenden Publikums wird mir unvergeßlich seyn.5 [...]
Die Zusammenkunft der Philologen hier in Cassel wurde Veranlassung, daß der Präsident der diesjährigen, Director Weber, beim Prinzen um die Aufführung der Antigone sollicitirte, wozu ich ihn, freilich ohne viel Hoffnung des Erfolgs angespornt hatte. Indessen nicht nur dieses, sondern auch die Aufführung des „Fall Babylons" die auf Ansuchen des Magistrats in der Kirche zum Besten der Stadtarmen gegeben werden sollte, wurde abgeschlagen, ja sogar der kostenfreie Eintritt in die Bildergallerie und in's Museum für die Fremden verweigert. Alles, was erlangt werden konnte, war, daß die Wasser in Wilhelmshöhe springen durften, auch nur damit der Wirth in Wilh. H. die Fremden zum Diner haben konnte. — Die Antigone ließen wir indessen nicht ganz fahren, - ich studirte mit einer Auswahl der besten Dilettanten die Chöre sorgfältig ein, Niemeier rezitirte sie und so brachten wir im schönen und akustischen Saal des Abendvereins eine Aufführung, so gut, wie sich's thun ließ, zu Stande. Das Orchester, welches nicht spielen durfte, wurde durch 2 Pianoforte von Enter und Bähr gespielt, ersetzt und zwar so, daß jeder Chor ein Piano hatte, die [sic] bey den Doppelchören beyde spielten. Es ging alles sehr gut und die Fremden schienen sehr zufrieden.6 In der nächsten Sitzung (die, beyläufig gesagt, bei weitem nicht so trocken und langweilig waren, wie ich geglaubt hatte,) wurde ein Danksagungsschreiben an Mendelssohn votirt, welches er in diesen Tagen erhalten wird.7 Ich habe mich sehr gefreuet, die geistreiche und eigenthümliche Musik kennen gelernt zu haben; mögte sie aber nun gern mit Orchester und der Handlung verbunden hören.
Von Ihrer Aufführung des Samson und Ihrer lieben Frau Sologesang hatte ich schon viel rühmliches erzählen hören8 und mich gefreuet daß das Wochenbett ihrer Stimme keinen Abbruch gethan hat. — Die Garcia habe ich vor 4-5 Jahren in Carlsbad gehört, wie sie mit ihrem Schwager Beriot reisete. Sie imponirte mir auch durch ihre Kehlfertigkeit und die Kühnheit ihrer Passagen und Sprünge und interessirte besonders durch den picanten und nationalen Vortrag spanischer Volksgesänge. Ihre Stimme war damals weder schön noch gleich und besonders in der Tiefe unangenehm. Doch blickte aus allem was sie machte eine Künstlernatur und war mir daher viel anziehender als ihres Schwagers glattes aber geistloses Spiel.9
Von alle den vielen berühmten Künstlern, die ich in London kennen gelernt und wiedergesehen habe, hat mich keiner so interessirt wie Benedict, den ich früher kaum einmal gesehen hatte. Er ist höchst liebenswürdig. Wir sprachen wiederholt von Ihnen und er trug mir die herzlichsten Grüße auf. Er verschaffte uns auch eine Loge zur italienischen Oper, wo Don Pasquale gegeben wurde. Wir hörten die Grisi, Mario und Lablache und bewunderten die schönen und kräftigen Stimmen, waren im Übrigen aber weder von der Gesangsweise noch viel weniger von der Oper erbaut. Dies neueste Werk von Donizetti ist höchst fade und viel schlechter wie z. B. die Regimentstochter.10 Leben Sie wohl und erfreuen Sie mich bald wieder mit einer Zuschrift. Von meiner Frau die besten Grüße an die liebe Ihrige.
Von Herzen
 
Ihr
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Hauptmann an Spohr. Hauptmann beantwortete diesen Brief am 23.10.1843.
Uhlendorffs Inhaltsangabe für diesen Brief informiert auch über Auslassungen im Druck: „U.A. über Mendelssohns Musik zu Sophokles Antigone, Webers Freischütz, Sps. Klaviersonate op. 125, 6 Duettinen für Klavier und Violine op. 127 (ausführlich) und die begonnene Oper Die Kreuzfahrer.”
 
[1] Die Hebriden.
 
[2] Zu diesem Konzert vgl. Spohr an Adolph Hesse, 28.08.1843, zu der angeblich begeisterten Presseresonanz vor allem Anm. 9.
 
[3] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 10.07.1843.
 
[4] Vgl. ebd., 12. bis 18.07.1843.
 
[5] Vgl. ebd., 21.07.1843; Spohr an Adolph Hesse, 28.08.1843; „Dr. Spohr”, in: Musical World 18 (1843), S. 25; „Dr. Spohr at Exeter Hall”, in: Musical Examiner 1 (1843), S. 288f.
 
[6] Vgl. O[tto] K[raushaar], „Cassel”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 45 (1843), Sp. 852f.; „Kassel, 28. Sept. (Die Versammlung der deutschen Philologen)”, in: Adler 6 (1843), S. 969; Verhandlungen der sechsten Versammlung in Cassel 1843 (= Verhandlungen des Vereins deutscher Philologen und Schulmänner 2), S. 10.
 
[7] Vgl. ebd., S. 74; Text der Adresse an Felix Mendelssohn Bartholdy und dessen Antwort ebd., S. 113f.
 
[8] Vgl. C[onrad] F[erdinand] Becker, „Händel's Oratorium Samson. Aufgeführt in Leipzig, den 23. September 1843”, in: Neue Zeitschrift für Musik 19 (1843), S. 99f.
 
[9] Vgl. Spohr an Adolph Hesse, 06.09.1838; Marianne Spohr, Tagebucheintrag 10.07.1838.
 
[10] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag, 04.07.1843.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.12.2016).